Im Gastblog fragt Sabine Pollak, was bei einem Richtungswechsel in der Stadtplanung alles möglich wäre.

Silvester ist erst kurz vorbei, da kann man sich noch etwas wünschen. Auch als Architektin, Stadtplanerin oder Stadtforscherin. Ich wünsche mir heuer eine unendlich schöne Stadt. Ist doch ganz einfach, oder? Meine Stadt ist Wien, mein Lebensmittelpunkt. Wien ist eh schön und wahrscheinlich schöner als so manche andere Stadt. Wenn nur hier nicht alles so lange dauern würde. Und so politisch motiviert wäre. Und so zaghaft, so übervorsichtig, so wenig radikal.

Ich wünsche mir eine Stadt so schön, als wäre sie aus Blumen gebaut.
Foto: Sabine Pollak

Verlass die Stadt

Wien hat keine echten Probleme, was soll man sich da also groß wünschen? Andere Städte haben weitaus größere Probleme. Sie befinden sich in einem Kriegszustand, sind direkt von diversen Klimakatastrophen betroffen oder sperren alle öffentlichen und institutionellen urbanen Räume für Mädchen und Frauen, wie gerade aktuell in Afghanistan. Im Grunde haben die Taliban ein Problem, aber es sind die Frauen und Mädchen, die leiden.

Je schwieriger die Ausgangslage, desto größer das Herzblut und die Liebe, die man in Projekte steckt. Man kann auch zu viel lieben, und wenn es nicht mehr geht, dann muss man eben gehen. Bevor die Glut in dir erlischt, verlass die Stadt, die keine ist, singt Eva Jantschitsch aka Gustav in dem 2008 veröffentlichten Lied. Die von Gustav beschriebene Stadt ist apokalyptisch: Straßen sind auf Sprengstoff gebaut, Kanäle werden geflutet, die Luft ist mit Asbest vermengt, und Gras wächst schon lange keines mehr in dieser Stadt. Also die Stadt verlassen? Bei aller Liebe zur Stadt erinnert mich das Lied dennoch an Wien, wo das Gras rar ist, die Sonne im Sommer auf den Asphalt knallt, die Menschen nicht mehr heizen können, weil es nicht mehr leistbar ist und sich im Winter die Autoschlangen durch die Stadt schieben, weil Leute mit dem Auto in die Stadt fahren, um Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Man liebt seine Stadt oder hasst sie oder beides zugleich. Auf jeden Fall, so finde ich, sollte man seiner Stadt gegenüber keine indifferente Haltung einnehmen. Alles, nur nicht indifferent. Wenn einem in der Stadt alles egal ist, ist das fatal. Wer seine Stadt liebt, kritisiert sie. Das müssen Bürgermeister und Stadtplanungsbeauftragte aushalten.

For Bogdan, with Love

Bogdan Bogdanović, serbischer Architekt, Philosoph und Bürgermeister von Belgrad musste 1993 seine Stadt, also Belgrad verlassen, nicht wegen seiner Kritik an der Stadt, aber wegen seiner Kritik an dem umstrittenen Politiker Slobodan Milošević. Bogdanović musste nicht nur die Stadt, sondern gleich auch das Land Serbien verlassen. Bogdanović und seine Frau gingen ins Exil, vorerst nach Paris und dann nach Wien.

Bogdanovićs Beziehung zur Stadt war immer intensiv und ambivalent, zwischen Liebe und Tod gewissermaßen, also alles nur nicht indifferent. Seine Liebe galt auch eher der Landschaft und deren Verknüpfung mit Geschichte, ausgedrückt in Monumenten fernab jeder Heroisierung. Sein erstes Monument wurde zugleich sein bekanntestes, eine stilisierte Blume aus Beton für die Opfer des größten jugoslawischen Konzentrationslagers in Jasenovac im heutigen Kroatien.

Bogdanović changierte zwischen Liebe und Tod und ebenso zwischen Schreiben, Zeichnen und Bauen. So entstanden höchst emotionale Texte, surrealistisch-subjektive Zeichnungen und skulpturale Räume. Über zwanzig Gedenkstätten gegen Faschismus und für Widerstandskämpfende entstanden, höchst symbolisch, aber nie platt. Es ist, als erhielte das Symbol in der Architektur durch Bogdanović eine neue Legitimität. Keine leere Geste, kein übergroßes Monument, sondern skulpturalisierte Emotion, gebaute Metaphysik und eine architektonische Sprache, die niemanden kaltließ.

Abseits der Skulpturen schrieb Bogdanović hauptsächlich über eine mögliche Zukunft der Stadt, eine Zukunft, die für ihn direkt mit dem Frieden verbunden war. Es sei eine Folge der Jugoslawienkriege, dass er, so Bogdanović, ständig über Frieden nachdenken müsse, auch und vor allem in Zusammenhang mit Städten. Er nannte es einen "Pax urbana", also einen urbanen Frieden oder den Frieden zwischen und unter Städten, hervorgebracht durch die Art und Weise, wie wir unsere Städte bauen und wie wir in diesen Städten und Architekturen leben können.

Pax urbana versus strategische Stadtplanung

Mir scheint dieser Pax urbana eine wunderbare Idee zu sein. Ich wünsche mir, dass wir unsere Städte so bauen, dass wir in Frieden darin leben können. So wenig wie ein Land jemals zur Gänze neutral sein kann, ist es auch Architektur nicht. Architektur folgt den taktischen Manövern von strategischen Überlegungen. Le Corbusier schrieb am Beginn des 20. Jahrhunderts, dass sich die Stadtplanung militärischen Grundsätzen unterzuordnen habe. Je weiter die modernen Gebäude voneinander entfernt stünden, desto weniger könnten sie im Falle eines Bombardements getroffen werden. Also baute Le Corbusier sehr stark verdichtete sehr große Wohneinheiten (Unités d’habitation), stellte sie in maximaler Distanz zu anderen Gebäuden und hatte so ein starkes Argument für sein Wohnmodell. In jedem Krieg gibt es Architekten und Architektinnen, die profitieren, und andere, die daran zu Grunde gehen. Und welche, die indifferent bleiben.

Gebauter Frieden gegen Indifferenz

Die Vorstellung, dass es einen urbanen Frieden geben könnte, ist bestechend. Dafür müsste sich die Stadtplanung mit der Friedensforschung zusammentun. Man müsste erkunden, wie Architektur den Widerstand unterstützen und Konflikte konstruktiv beenden könnte, durch eine bestimmte Form und Struktur der Stadt, durch Typologien, Räume, Wege und Plätze, alles ohne Pomp und Repräsentation, aber dafür mit viel Emotion. Ohne eine Ästhetik wird es allerdings nicht gehen.

Die Zukunft der Stadt ist vielleicht rund und bunt, auf jeden Fall nicht indifferent.
Foto: Sabine Pollak

Die Pax urbana wird auch eine gewisse neue Schönheit des Friedens mit sich bringen. Keine Schönheit im klassischen Sinn, sondern eher im Sinne einer maximalen Beteiligung, eine heilende Stadt also. Keine Stararchitektur, sondern viele kleine urbane Inseln junger wie auch älterer engagierte Architekten und Architektinnen. An jedem Eck der Stadt wären wir überwältigt von großartigem Raum, der uns aus unserer Gleichgültigkeit herausreißen würde. Eine Straße weiter ein pointierter Turm, zweimal ums Eck ein versunkener Garten, daneben eine fürwitzige Fassade, dahinter ein kleiner Wald und an jeder Straßenkreuzung eine kleine warme Halle für all jene, die gerade nicht heizen können. An jedem zweiten Tag würde die Stadt für Autos gesperrt (gewöhnungsbedürftig, aber machbar). Das Konkurrenzdenken wäre aus der Mode gekommen und anstelle von Konsumtempeln würden kleine und gute Wohnungen gebaut, überall dort, wo auch nur ein kleinster Rest von Fläche zur Verfügung stünde, dafür würde sogar die Bauordnung kurzfristig außer Kraft gesetzt werden. Das alles würde der Stadt viel Geld kosten, dafür aber wären ihre Bewohnerinnen und Bewohner für immer von ihrer Indifferenz geheilt. (Sabine Pollak, 5.01.2023) 

Weitere Beiträge im Blog

2022 veröffentliche Sabine Pollak im Sonderzahl Verlag das Buch "Die unendliche Stadt. 80 Visionen künftigen Wohnens." 80 Zeichnungen utopischer Städte werden begleitet von Kurztexten zu einer möglichen Zukunft der Stadt.