Nic Newman vom Reuters Institute for the Study of Journalism an der Oxford University.

Foto: Reuters Institute / Illustration: Armin Karner

Wien – 2023 wird für die Medienbranche ein schwieriges Jahr. Erheblichen Jobabbau sowie eine Flut von Fusionen und Übernahmen prognostiziert Nic Newman vom Reuters Institute for the Study of Journalism an der Oxford University. Die Gründe sind die Wirtschaftsentwicklung und knapper werdende Haushaltsbudgets. Um gegen die Nachrichtenmüdigkeit des Publikums anzukämpfen, sollten Medien zunehmend auf lösungsorientierten Journalismus setzen. Klimaberichterstattung werde immer wichtiger.

Um den Jahreswechsel fragt DER STANDARD Medienschaffende nach ihrer Prognose, was auf die Branche im Jahr 2023 zukommt. Nic Newman ist Hauptautor des jährlichen "Digital News Report", der weltweit größten Studie zum Nachrichtenkonsum, sowie des jährlichen Trendberichts des Reuters Institute, der am 10. Jänner 2023 veröffentlicht wird. Zuvor war Newman Nachrichtenmanager bei der britischen BBC.

"Tiefe Unsicherheit": Newman über den Ausblick für Medien

"Die vorherrschende Stimmung in der Nachrichtenbranche entspricht einer tiefen Unsicherheit darüber, was das Jahr 2023 bringen könnte. Die Wirtschaftsindikatoren sehen nicht gut aus. Die schnell steigenden Kosten und die höher werdenden Haushaltsausgaben erhöhen den Druck auf Unternehmen, die mit dem digitalen Wandel zu kämpfen haben."

Und: "Probleme wie Nachrichtenvermeidung und Nachrichtenmüdigkeit erschweren es traditionellen Medien, Aufmerksamkeit zu erzeugen und zu halten, während die Unberechenbarkeit einiger sozialer Netzwerke die Zugriffszahlen auf die Nachrichtenseiten beeinträchtigen."

Mangelware Zuversicht unter befragten Medienmachern

"Verleger, mit denen wir gesprochen haben, sind hinsichtlich ihrer Geschäftsaussichten viel weniger zuversichtlich als letztes Jahr um diese Zeit. Weniger als die Hälfte (44 Prozent) der 300 Redakteure, CEOs und digitalen Führungskräfte, die wir beim Reuters Institute befragt haben, sagen, dass sie für das Jahr 2023 zuversichtlich sind. Die größten Bedenken beziehen sich auf Inflation, geringeres Interesse von Werbetreibenden und eine Abschwächung der Abonnements", erklärt Newman.

Gerüstet für die schwierige Zeit sieht er "Unternehmen, die ihre digitale Transformation bereits abgeschlossen haben und über ein robustes Abonnementgeschäft oder diversifizierte Einnahmen verfügen. Sie sind nach wie vor in der besten Position, um den Sturm zu überstehen. Jene, die sich zu sehr auf Print oder Werbung verlassen haben, erwartet ein hartes Jahr. In diesem Jahr werden wahrscheinlich mehr Zeitungen ihre Ausgaben verschlanken, die Veröffentlichung an sieben Tagen in der Woche einstellen oder sogar die Printausgaben zur Gänze stoppen."

Newman: "Wahrscheinlich werden wir in ganz Europa erheblichen Jobabbau sowie eine Flut von Fusionen und Übernahmen sehen, da die Industrie versucht, Kosten zu senken. Die Branchenkonsolidierung schafft manchmal mehr Probleme, als sie löst, aber am effektivsten sind Unternehmen, die in ihren Portfolios unverwechselbare und komplementäre Marken haben und sie mit einem stärkeren Fokus auf bestimmte Zielgruppenbedürfnisse und -segmente betreiben möchten."

Digitale Abozahlen verlangsamen sich

"Wir können davon ausgehen, dass sich das Wachstum bei digitalen Abonnements, Mitgliedschaften und Spenden in diesem Jahr verlangsamen wird, wobei die Bindung bestehender Abonnentinnen und Abonnenten ein besonderer Schwerpunkt sein wird", erwartet der Medienexperte. Viele Unternehmen setzten hier auf spezielle Angebote, um Menschen zu halten, die ihr Abo kündigen wollen.

Medienunternehmen versuchten zudem, das Publikum mit Newslettern und Podcasts bei der Stange zu halten, die nur für Mitglieder zugänglich sind. Oder sie entwickeln oder erwerben Produkte wie Spiele, Kochrezepte und E-Commerce-Portale und kombinieren sie mit Zugangs- und Abonnementpaketen. Newman: "Wir werden auch mehr Verleger sehen, die über ihre Heimatmärkte hinausblicken, um neue Einnahmequellen zu finden."

Sinkende Zugriffe: Medien und News-Avoidance

"Viele Medienunternehmen, mit denen wir sprechen, haben im letzten Jahr über sinkende Zugriffe auf ihre Online-Sites berichtet. Einige führen dies auf ein zunehmendes Maß an selektiver Nachrichtenvermeidung zurück. Unser 'Digital News Report 2022' hat gezeigt, dass der Anteil jener, die wichtige Geschichten wie Politik, Ukraine und Covid-19 vermeiden, angesichts einer unerbittlichen und überwältigend deprimierenden Nachrichtenagenda schnell gewachsen ist", erinnert Newman.

"In diesem Jahr können wir davon ausgehen, dass mehr Medienunternehmen versuchen werden, diese Probleme mit einem positiveren Ansatz anzugehen. Wir werden wahrscheinlich mehr Geschichten sehen, die auf Inspiration setzen oder sich auf Lösungen konzentrieren und nicht nur die Probleme in den Fokus nehmen. Beispiele sind Newsletter, die sich auf positive Entwicklungen konzentrieren – wie der 'Optimist Daily' – oder lösungsorientierte Podcasts."

Wandel in der Klimaberichterstattung

Newman: "Wir werden in diesem Jahr wahrscheinlich auch einen deutlichen Wandel in der Klimaberichterstattung erleben, da viele Verlage neue Mitarbeiter einstellen, Klimaaspekte in die Nachrichtenredaktion integrieren und Nachhaltigkeitsziele für Berichterstattung und Produktion festlegen."

Die "Washington Post" verdreifache etwa ihr Klimateam auf 30 Personen. Ein "Climate Lab" erweitere die Berichterstattung um Daten und Grafiken, um die Auswirkungen der globalen Erwärmung zu zeigen. Ein Kolumnist liefert Klimaratschläge und Verbraucherleitfäden mit Tipps für ein nachhaltiges Leben.

Newman verweist auf Initiativen in Österreich für klimagerechte Sprache, lösungsorientierte Berichterstattung und Ressourcen für interdisziplinäre Berichterstattung.

Die großen Plattformen und die Nachrichtenbranche

Der Medienexperte erinnert an die jüngsten Entwicklungen der Tech-Riesen: "Die Technologiebranche hat im Jahr 2022 eine Reihe von Rückschlägen erlitten, die mit einer Verlangsamung der digitalen Werbung, Datenschutzänderungen auf Apples iOS-Plattform und sinkendem Verbraucherinteresse an vielen Produkten zusammenhängen. Abgesehen von Entlassungen und eingebrochenen Börsenwerten kämpfen soziale Netzwerke der ersten Generation wie Facebook darum, ihr Publikum zu halten, da ältere Menschen sich langweilen und jüngere Benutzer zu neuen Netzwerken wie Tiktok abwandern. Die Übernahme von Twitter durch Elon Musk hat bei dem Netzwerk, das für Nachrichten unverzichtbar geworden ist, für Aufruhr gesorgt und ernsthafte Fragen darüber aufgeworfen, ob Journalisten ihre Inhalte im Jahr 2023 woanders platzieren sollten."

Tiktok auf dem Vormarsch, Facebook verliert an Bedeutung

"In diesem Jahr sagen uns Verleger, dass sie mehr in Tiktok und Youtube investieren werden, also in Netzwerke, die sich bei jüngeren Zielgruppen als die beliebtesten erweisen – und weniger in Facebook und Twitter stecken", berichtet Newman. "Aber diese Veränderungen sind nicht ohne Risiken. Die Monetarisierung auf Tiktok bleibt äußerst begrenzt, und die Produktion maßgeschneiderter vertikaler Videoinhalte erfordert viel mehr Investitionen als das Posten einiger Links auf Facebook. Darüber hinaus können wir in diesem Jahr mehr Druck auf Tiktok aufgrund seiner chinesischen Eigentümer erwarten. Mehr Organisationen und Länder werden seine Nutzung aufgrund von Bedenken hinsichtlich Datensicherheit, Fehlinformationen und Zensur von Inhalten einschränken."

Die Einführung des Digital Services Act (DSA) und des Digital Markets Act (DMA) in diesem Jahr in Europa werde den größten Technologieunternehmen neue Grenzen setzen, die von schädlichen Inhalten bis hin zu unlauterem Wettbewerb reichen. Die vollständige Umsetzung werde viele Jahre dauern, aber erste Behörden- und Gerichtsentscheidungen würden die Richtung weisen. Die potenziell hohen Geldstrafen würden etwa "Elon Musk zum Nachdenken bringen, wenn er auf Twitter eine kantigere Sprache forcieren will".

2023 könnte erste Anzeichen für ein Ende der offenen Social-Media-Netzwerke bringen, zitiert Newman Branchenstimmen – und Anzeichen, was als Nächstes kommen könnte. Der Medienexperte: "Mit einem riesigen Publikum, das zu gewinnen ist, können wir erwarten oder hoffen, dass die Saat für etwas Besseres aufgeht, mit einer Vielzahl neuer Netzwerke und Modelle, die höflichen Umgang miteinander fördern und Communitys verbinden." (omark, 6.1.2023)