Soll der russische Präsident Wladimir Putin, der Auslöser des Angriffskrieges gegen die Ukraine, als Kriegsverbrecher vor das Internationale Tribunal in Den Haag gestellt werden?

Das ist eine der Bedingungen, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stellt, unter denen sein Land zu Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges bereit wäre. Schwierig, sagt dazu der österreichische Menschenrechtsexperte Manfred Nowak. Es wäre der erste derartige Prozess seit den Nürnberger Prozessen, bei denen neben Verbrechen gegen die Menschlichkeit "Angriffskrieg" einer der Anklagepunkte war.

Ein Kriegsverbrecherprozess mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Anklagebank ist nicht in Sicht.
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Auch dieser Prozess, bei dem die Größen des Naziregimes auf der Anklagebank saßen, war nicht unumstritten. Adolf Hitler war tot. Einer der Hauptangeklagten, der "Reichsmarschall" Hermann Göring, war noch bei Kriegsende fest davon überzeugt, er würde jetzt zu Friedensverhandlungen eingeladen werden. Dass er stattdessen als Kriegsverbrecher angeklagt wurde, hat ihn überrascht. In Deutschland (und Österreich) sprachen damals manche von "Siegerjustiz". Andere nahmen Anstoß daran, dass auch die Sowjetunion zu den Anklägern gehörte, deren Führung sich ebenfalls Menschenrechtsverletzungen hatte zuschulden kommen lassen.

Die wirkliche Katharsis, die echte Konfrontation mit dem Unrecht und den Ungeheuerlichkeiten des Naziregimes kam für die Täternation erst mit dem Auschwitzprozess, als deutsche Richter und deutsche Ankläger über die Täter zu Gericht saßen.

Genugtuung für die Opfer

Prozesse gegen die Anstifter von Angriffskriegen haben nicht nur die individuelle Bestrafung von Missetätern zum Ziel, sie sollen auch ein öffentliches Zeichen setzen. Sie sollen Genugtuung für die Opfer bringen, vor allem aber den Landsleuten der Täter klarmachen, dass ihr Krieg ein entsetzliches Verbrechen war.

Wie würde wohl die russische Bevölkerung auf einen allfälligen Kriegsverbrecherprozess gegen ihren Präsidenten reagieren? Putins Propaganda hat von Anfang an einen Zusammenhang mit dem "Großen Vaterländischen Krieg" von einst mit der "Spezialoperation" gegen die Ukraine herzustellen versucht. Da wie dort sei es um einen Kampf des Guten gegen das Böse gegangen, der Patrioten gegen die "Nazis".

Um die Masse der Russen davon zu überzeugen, dass dieser Krieg ein Unrecht ist, mit seinen vielfachen Morden an Zivilisten, den Vergewaltigungen, Verschleppungen, der massenhaften Zerstörung ziviler Ziele, müsste der Anstoß wohl aus der russischen Gesellschaft selbst kommen.

Es gibt sehr wohl unerschrockene Menschen in Russland, die das versuchen und damit ihre Freiheit und ihr Leben riskieren. Aber wenn man den Experten glaubt, ist das eine kleine Minderheit. Sie verdient unsere Bewunderung und unsere Solidarität. Aber ein russischer Stauffenberg ist vorderhand nicht in Sicht. Und auf absehbare Zeit wohl auch kein Kriegsverbrecherprozess mit Putin auf der Anklagebank. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 5.1.2023)