Im Gastkommentar sagt der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, dass die Rolle der EU als Hauptfinanzier des ukrainischen Wiederaufbaus die Union in noch stärkerem Maße spalten und schwächen könnte als frühere Krisen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (li.) und Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz (re.) sowie fast alle anderen europäischen Staats- und Regierungschefs wären sicherlich dagegen, würde Ratspräsident Charles Michel oder der oberste Außenpolitiker Josep Borrell die EU bei Friedensverhandlungen vertreten.
Foto: APA / AFP / Ludovic Marin

Dieser Kommentar ist keine Polemik darüber, ob man Russland vertrauen kann, einen künftigen Friedensvertrag mit der Ukraine einzuhalten. Ebenso wenig handelt es sich um Überlegungen über die Vorzüge einer Beendigung des Krieges mit diplomatischen Mitteln. Es geht vielmehr um eine Reflexion des jüngsten europäischen Paradoxons. Während nämlich ein Frieden in der Ukraine dazu beitrüge, den wirtschaftlichen Aderlass Europas einzudämmen, wäre die Europäische Union in dem Moment, da irgendein Friedensprozess einsetzt, durch eine interne Ost-West-Bruchlinie gespalten, die auch den früheren Nord-Süd-Konflikt in der Union wieder aufleben ließe.

Wer führt?

Ein glaubwürdiger Friedensprozess wird schwierige Verhandlungen unter Beteiligung der Großmächte der Welt erfordern. Wer würde nun Europa an diesem hochrangig besetzten Verhandlungstisch vertreten? Schwer vorstellbar, dass die Staats- und Regierungsspitzen aus Polen, Skandinavien und den baltischen Ländern diese Rolle ihren französischen oder deutschen Amtskollegen überließen.

Französische und deutsche Eliten üben heftige Kritik an der Vorstellung, wonach die EU in einem Friedensprozess durch die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas oder ihre finnische Amtskollegin Sanna Marin vertreten sein könnte. "Die moralischen Kreuzzüge der Maximalisten im Ukraine-Krieg mögen jetzt vielleicht en vogue sein, aber in einem Friedensprozess sind sie eher hinderlich als hilfreich", formulierte ein offizieller Vertreter Deutschlands mir gegenüber.

Es bleibt also die Frage: Wer wird die EU in einem künftigen Friedensprozess vertreten?

Brüsseler Optimismus

Hätte die EU die massive Banken- und Schuldenkrise in der Zeit nach 2008 zur Demokratisierung ihrer Institutionen genutzt, könnte Europa heute glaubwürdig von seinem Präsidenten und Außenminister vertreten werden. Doch die Bürgerinnen und Bürger Europas und auch nationale Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker würden bei dem Gedanken erschaudern, durch EU-Ratspräsident Charles Michel oder den obersten EU-Außenpolitiker Josep Borrell vertreten zu werden.

In Brüssel ist man optimistisch, dass die EU trotz ihrer militärischen Schwäche und fehlender legitimierter Beauftragter über erhebliches Gewicht in etwaigen Verhandlungen verfügen würde, da es sich bei ihr um jene Wirtschaftsmacht handelt, die für den Wiederaufbau der Ukraine aufkommen wird und über den Beitritt der Ukraine zum EU-Binnenmarkt, zur Zollunion oder sogar zur EU selbst entscheiden wird. Aber ist derartiger Optimismus gerechtfertigt?

Fiskalischer Spielraum?

Die EU wird zweifellos enorme Summen zahlen und einen eventuellen Beitrittsprozess der Nachkriegs-Ukraine organisieren. Allerdings besteht kein Grund zur Annahme, dass dies der EU eine einflussreiche Rolle während des Friedensprozesses garantiert. Tatsächlich gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die Rolle der EU als Hauptfinanzier des ukrainischen Wiederaufbaus die Union in noch stärkerem Maße spalten und schwächen wird als die Krise vor zehn Jahren.

Die EU-eigene Europäische Investitionsbank schätzt die Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine auf rund eine Billion Euro – eine Summe die dem EU-Budget für den Zeitraum von 2021 bis 2027 entspricht und sogar um 40 Prozent höher liegt als die Dotierung des EU-Aufbaufonds Next Generation EU. Da Deutschland aufgrund seines 200-Milliarden-Euro-Plans zur Stützung des kollabierenden deutschen Industriemodells und der von Bundeskanzler Olaf Scholz für Verteidigungsausgaben vorgesehenen 100 Milliarden Euro bereits in der Bredouille steckt, fehlt der fiskalische Spielraum, um auch nur einen Bruchteil dieser Summe bereitzustellen.

"Sobald in der Ukraine Frieden einkehrt, wird man sich auf noch mehr gemeinsame Schulden einigen müssen."

Kann Deutschland nicht zahlen, so ist klar, dass die anderen EU-Mitgliedsstaaten auch nicht zahlen können. Die einzige Möglichkeit, Geld für die Ukraine aufzubringen, bestünde in der Ausgabe gemeinsamer Schuldtitel. So würde man die schmerzhaften Schritte noch einmal unternehmen, die zur Einrichtung des EU-Konjunkturprogramms im Jahr 2020 führten.

Unter dem Druck, die Mittel aufzubringen, könnte die EU diesen Weg tatsächlich einschlagen, nur um dann festzustellen, dass er in harscher Wut und Bitterkeit mündet. Zwar einigten sich die Staats- und Regierungsspitzen der EU während der Pandemie auf eine gemeinsame Verschuldung, doch zu dieser Zeit war die Inflation negativ, und alle EU-Mitglieder standen vor einer wirtschaftlichen Implosion, da Lockdowns die Nachfrage in ganz Europa abwürgten. Sobald in der Ukraine Frieden einkehrt, wird man sich auf noch mehr gemeinsame Schulden einigen müssen, um den Wiederaufbau der Ukraine in einer Zeit zu finanzieren, in der sich die Zinssätze vervierfacht haben, die Inflation grassiert und die wirtschaftlichen Vorteile für die EU-Mitglieder überaus ungleich verteilt sein werden.

Neue, alte Kluft

Spanien wird die Gerechtigkeit einer gemeinsamen Verschuldung in Frage stellen, wenn deutsche Unternehmen den Löwenanteil der Aufträge für den Wiederaufbau der Ukraine erhalten. Polen wird lautstark protestieren, wenn Deutschland und Italien ankündigen, nach der Wiederherstellung des Friedens erneut Energie aus Russland beziehen zu wollen. Ungarn wird sich seine Zustimmung zu einem Ukraine-Fonds teuer abkaufen lassen und noch mehr Ausnahmen von den Rechtsstaatlichkeits- und Transparenzauflagen der EU fordern. Inmitten dieses Durcheinanders wird die alte Kluft zwischen Nord und Süd (oder zwischen Calvinisten und Katholiken) hinsichtlich der Vorzüge einer Fiskalunion mit aller Macht wieder aufbrechen.

Deutschland fürchtet bereits, dass Frankreich auf einer dauerhaften und durchaus regelmäßigen Emission gemeinsamer Schuldtitel bestehen wird. Das wird die deutsche politische Klasse ablehnen, und zwar nicht nur, weil das Bundesverfassungsgericht bereits gegen diese Idee entschieden hat. Der wahre Grund besteht darin, dass eine Fiskalunion, wie sie Frankreich zu favorisieren scheint, von deutschen Konzernen verlangen würde, eine in deren DNA verankerte Praxis aufzugeben: nämlich die Anhäufung US-amerikanischer Vermögenswerte, die den hohen Nettoexporten in die Vereinigten Staaten zu verdanken ist, welche wiederum von stagnierenden Löhnen in Deutschland und unter Preis gekauftem Erdgas ermöglicht werden.

"Nach dem Finanzcrash des Jahres 2008 hat die EU die entstandene Nord-Süd-Verwerfung lediglich übertüncht."

Wenn also das Inflationsbekämpfungsgesetz von Präsident Joe Biden mit der damit verbundenen Errichtung eines protektionistischen Schutzwalls rund um die Vereinigten Staaten zur Unterbindung deutscher Nettoexporte nicht zu einem Umdenken in Deutschland führt, werden wohl alle Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges die Ost-West-Kluft in der EU verschärfen – und später die alte Kluft zwischen Nord und Süd wieder offenlegen.

Das alles sollte keine Überraschung sein. Nach dem Finanzcrash des Jahres 2008 hat die EU die entstandene Nord-Süd-Verwerfung lediglich übertüncht. Der Krieg in der Ukraine hat unweigerlich eine neue Ost-West-Verwerfung offengelegt. Sobald Frieden herrscht, werden beide Bruchlinien nur noch tiefer, hässlicher und auch unübersehbar werden. (Yanis Varoufakis, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 6.1.2023)