Marcus Bachmann, Berater für humanitäre Angelegenheiten bei Ärzte ohne Grenzen Österreich, schreibt in seinem Gastkommentar über die herrschende Medikamentenknappheit – und was sich ändern sollte.

Was wir derzeit in Österreich als Ausnahmezustand erleben, nämlich dass hunderte Medikamente wie zum Beispiel Antibiotika inklusive Penicillinen nicht selbstverständlich und immer verfügbar sind, ist für viele Menschen in einkommensschwachen Ländern eine ständige Realität. Sie wissen längst, was es heißt, krank zu sein und ein möglicherweise lebensrettendes Arzneimittel nicht zu bekommen.

Die Medikamentenknappheit, die wir aus unseren Einsatzländern kennen, ist nun auch in Österreich angekommen. Die Ursache liegt nicht primär in der derzeitigen Krankheitswelle, sie liegt tiefer. Sie ist nur die Spitze eines Eisbergs und Ausdruck einer viel umfassenderen Systemkrise. Weltweit ist die Medikamentenversorgung immer mehr gefährdet.

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Derzeit sind zig Arzneimittel gar nicht verfügbar, oder wenn, dann nur eingeschränkt. Was läuft falsch?
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Klar ist, dass die Covid-19-Pandemie direkt und indirekt zur Verschärfung der Krise beigetragen hat. Einerseits kam es zu einem massiv erhöhten Bedarf an Medikamenten, andererseits sind Lieferketten unter Stress geraten und teilweise gerissen. Tatsächlich reichen die zugrundeliegenden Ursachen allerdings noch viel tiefer. Das System ist aus dem Lot. Die Pharmaindustrie leistet in Forschung und Entwicklung, Produktion und Vertrieb schon längst nicht mehr das, was Patientinnen und Patienten weltweit benötigen.

Für zahlreiche Krankheiten wie etwa vernachlässigte Tropenkrankheiten, die zwar viele Menschen im Globalen Süden betreffen, aus denen sich jedoch kaum exorbitanter Gewinn schlagen lässt, weil die Zahlungskraft fehlt, gibt es keine Medikamente. Das "Marktpotenzial" wird von der pharmazeutischen Industrie als zu gering betrachtet. Wenn es ökonomisch nicht interessant erscheint, etwa bei Cholera-Impfstoffen, wird schlicht zu wenig produziert. Und wenn es nicht genug von einem Medikament gibt, führt dies auch zum Horten, wie wir bei Covid-19-Impfstoffen gesehen haben.

Gewinne maximieren

Engpässe entstehen, weil das System versagt. Der Konzentrationsprozess der pharmazeutischen Industrie, wenn immer mehr Firmen sich zu immer größeren Einheiten zusammenschließen, führt dazu, dass es oft nur mehr eine einzige Fertigungsstätte weltweit für einen Wirkstoff, ein Medikament, gibt. Kommt es hier zu einer Störung der Produktion, ist der Ausfall massiv spürbar. Gewinne werden maximiert, auch auf Kosten der Versorgungssicherheit. Extreme Margen erhöhen den Druck auf die gesamte Branche, ihre Erträge zu maximieren, und es wird nicht in Medikamente investiert, die ertragreich, aber nicht extrem gewinnbringend sind. Die Verlängerung von Patentschutz auf einzelne Mittel führt zu Quasimonopolen.

Die Anreizsysteme, wie sie aktuell auch in Österreich diskutiert und teilweise bereits angewandt werden, etwa die von Politikerinnen und Politikern vorgeschlagene Erhöhung von Preisen für Medikamente, wären nicht nur wirkungslos, sondern kontraproduktiv. Wir sehen bereits jetzt, dass EU-Länder, die schon höhere Preise zahlen als Österreich, mit den gleichen Engpässen konfrontiert sind. Es liegt nicht am Geld. Es besteht allerdings die Gefahr, dass sie langfristig das System in eine noch größere Schieflage bringen: Wir zahlen mehr, ohne dass mehr produziert wird. Auch erweiterte Schutzrechte für geistiges Eigentum, wie zum Beispiel die Verlängerung des Patentschutzes, führen zu Verteuerung. Bei öffentlichen Geldern, die in Forschungs- und Entwicklungsanreize fließen, fehlen oft die Lenkungseffekte. Es ist erstaunlich, dass Steuergelder unstrategisch verteilt werden unabhängig davon, ob Lücken in der Versorgung bestehen oder nicht.

Langfristige Verträge

Kein Medikament zu bekommen, wenn man krank ist, bedeutet eine schwere Belastung für Patientinnen und Patienten, schwerere Verläufe, längere Leidenszeit. Im ärgsten Fall ist es lebensbedrohlich. In einkommensschwachen Ländern sterben Menschen an behandelbaren Krankheiten, weil die lebensrettenden Medikamente fehlen.

Überall, wo wir Patientinnen und Patienten behandeln, bemüht sich Ärzte ohne Grenzen um eine ausreichende Versorgung mit Medikamenten. Wir leisten kritische Analyse und Bewusstseinsarbeit und machen Lösungsvorschläge für weltweit gerechten und gleichberechtigten Zugang zu lebensrettenden Medikamenten. Wir schließen mit Produzenten weltweit langfristige Lieferverträge ab, damit wir unsere Patientinnen und Patienten gut versorgen können.

In der Vergangenheit konnte bereits gezeigt werden, dass beides sehr gut möglich ist: für alle leistbare Preise und zugleich genügend Anreiz für ausreichende Produktion. Das beweist das Beispiel antiretroviraler Medikamente für die Behandlung von HIV, wo ein Arzneimittelpatentpool geschaffen wurde. Das ließe sich für alle Medikamente umsetzen (Marcus Bachmann, 20.1.2023)