Es muss uns gelingen zu verhindern, dass obszöne Einkommen überhaupt entstehen, anstatt nachträglich mit Besteuerung nachzuhelfen, fordert Kurt Bayer im Gastkommentar.

Die Medien berichten vermehrt über die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung: Zu Beginn des diesjährigen Treffens der Finanz- und politischen Eliten in Davos hat die NGO Oxfam errechnet, dass seit 2020 das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung seinen Reichtum mehr als zweimal so stark vergrößert hat wie der gesamte Rest der Welt. Sowohl Einkommens- als auch Vermögensverteilungen haben sich in den letzten Jahrzehnten weltweit und innerhalb der meisten Länder massiv zugunsten der Reichen verschlechtert – mit Ausnahme des bemerkenswerten Beispiels von China, das bis zu seiner umstrittenen Covid-Politik hunderte Millionen von Menschen aus der tiefsten Armut herausgebracht hat. Die obszön hohen Einkommen, die riesigen Vermögensanhäufungen einiger haben in den letzten Jahren zunehmend zur Lockerung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und zum Zulauf zu populistischen Rattenfängern beigetragen und bedrohen damit den Erhalt der Demokratie.

Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf. Das zeigt ein gerade veröffentlichter Bericht der Organisation Oxfam.

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Einige Politiker und NGOs propagieren seit Jahren eine adäquate Besteuerung von großen Vermögen und hohen Einkommen als Mittel, um die sich weiter verschärfende Verteilungssituation zu dämpfen. Nur mit großer Mühe ist es in einigen Ländern gelungen, angesichts der rasanten Teuerung von Energierohstoffen "Übergewinnsteuern" durchzusetzen. Versuche einiger Länder, die höchsten Einkommensteuersätze zu steigern, bleiben angesichts des "Arguments", dass dann "der Kampf um die besten Talente" verlorenginge, erfolglos. Ein Beispiel für die Niveaus der hohen Gehälter: Das Jahresdurchschnittsgehalt der Geschäftsführer der S&P-500-Technologie-Unternehmen ist von 2020 auf 2021 um 17 Prozent auf 15 Milliarden US-Dollar gestiegen, während die Belegschaftsgehälter seit Jahren stagnieren.

Obszöne Einkommen

Die Strategie, in höheren Besteuerungen von hohen Einkommen und Vermögen das Heil in der Bekämpfung der Verteilungskrise zu sehen, ist verfehlt. Innerhalb des bestehenden Systems sind diese immer nur "Pflaster" auf die tiefen Wunden der gesellschaftlichen und ökonomischen Verzerrungen. Es muss stattdessen darum gehen, die Entstehung dieser obszönen Einkommen und Vermögen zu behindern und nicht – ex post facto – zu versuchen, durch Besteuerung diesen Ungleichheiten nachzulaufen. Unternehmen und Reiche sind mit ihren Steuerberatern den Steuerbehörden immer mindestens einen Schritt voraus.

Für die Einkommens- und Vermögensverteilung heißt dies beispielhaft:

  • Da viele der Vermögen durch Bewertungen auf den Finanzmärkten entstehen, die durch algorithmisches Traden, vielfach durch Spekulation getrieben werden, ist dem Hochfrequenzhandel ein Riegel vorzuschieben und dieser etwa durch konkrete Auktionstermine (ein- bis zweimal pro Tag) zu ersetzen. Dadurch könnten die allen ökonomischen Überlegungen widersprechenden absurden Aktienbewertungen (zwischen 1990 und 2021 sind die Aktienkurse um den Faktor fünf, das Bruttoinlandsprodukt um den Faktor zwei gestiegen) eingebremst werden.

  • Durch stärkere Wettbewerbspolitik muss die immer weitergehende Konzentration und damit Machtanhäufung von Unternehmen gebremst werden. Dadurch wird monopolistischer Preissetzung ein Riegel vorgeschoben. Dies würde auch die Unternehmensaufkäufe durch Investmentbanken reduzieren, deren gesellschaftlicher Wert meist kontraproduktiv ist.

  • Die zunehmende Subventionierung von Unternehmen, sei es unter dem Titel der Covid-Politik oder der Kompensation von Energiepreissteigerungen, hätte von Auflagen, die diesen Unternehmen die Auszahlung von Boni an das Management sowie den Rückkauf ihrer eigenen Aktien verbieten, begleitet sein sollen.
"Unternehmen und Reiche sind mit ihren Steuerberatern den Steuerbehörden immer mindestens einen Schritt voraus."
  • Im Rahmen der ESG-Agenda (Environmental, Social, Governance) sind unter dem Teilpunkt "good governance" den Unternehmen Richtwerte für die Preisgestaltung, für die Verteilung der Einkünfte auf Top-Management und Belegschaft sowie für Investitionen und Rücklagen verbindlich vorzugeben, um damit die einseitigen Selbstbedienungsläden der Geschäftsführung zu durchbrechen. Damit könnte der empirisch nachweisbaren Gewinn-Preis-Spirale der Boden entzogen und so die hohe Inflation gedämpft werden.

  • Im Rahmen einer "ethischen" Geschäftsführung ist der Richtschnur, dass Remuneration mit dem Arbeitseinsatz zu tun hat, wieder Platz zu verschaffen. Dies würde wieder zu akzeptablen Relationen zwischen CEO-Einkommen und jenem der Belegschaft (etwa 20:1, im Gegensatz zu 400:1 bei einigen Hightech-Unternehmen und Großbanken) führen, Betriebsklima und Unternehmensbindung der Belegschaften verbessern.

  • Die Bekämpfung der multiplen Krisen (Pandemie, Klimaerwärmung, Krieg, Inflation, Energie, Verteilung) erfordert die stärkere Intervention des Staates in die Wirtschaft, da "der Markt" an ihrer Bekämpfung scheitert, ja, sie mitverursacht hat. Der Staat muss nicht nur über Subventionen, sondern auch durch Ge- und Verbote eingreifen. Damit kann er bei der Richtung der Investitionen ("grün") wie auch bei Preissetzung und internen Unternehmensabläufen eingreifen und die Wirtschaft in langfristige tragfähige Bahnen lenken. Unser "Turbokapitalismus" hat die Klimakrise verursacht wie auch durch zunehmende Arbeitsintensivierung und Lohndruck zu hoher psychischer und physischer Belastung und damit zu einer Entfremdung der Belegschaften geführt.

Die negative Einkommens- und Vermögensverteilung ist sicht- und fühlbarer Ausdruck dieses Kapitalismus. Sie widerspricht dem Solidaritätsgebot sowie der Fairness der Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Ihre Neugestaltung muss an den Wurzeln ansetzen. Steuern können dabei helfen, doch muss der Fokus darauf liegen, diese Ungleichheiten gar nicht entstehen zu lassen. Dies rührt an die "Systemfrage", an die Frage der Überlebensfähigkeit und Tragfähigkeit unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems. (Kurt Bayer, 23.1.2023)