Für viele Eltern ist es die allerwichtigste Richtungsentscheidung für ihr Kind, für die sie alles tun, was ihnen möglich ist: Hauptsache, ins Gymnasium! Und was ist mit den anderen?

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Für die einen ist er ein "Verräter", für die anderen der "Totengräber ihres Schulwesens": Das hindert Markus Astner nicht, sich für eine grundlegend andere Schule einzusetzen. Nicht irgendeine, sondern der Tiroler AHS-Lehrer kämpft mit seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern für das zentrale Streitobjekt der bildungspolitischen Debatte: eine gemeinsame Schule in Österreich. Ausgerechnet. Was treibt ihn an? Wohin soll es gehen?

Markus Astner macht sich für eine gemeinsame Schule stark. Sie sei ein Element für ein insgesamt besseres Schulsystem, von dem alle profitieren würden.
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STANDARD: Ihre Innsbrucker Initiative "zukunft_schule_jetzt", die auch zur österreichweiten Gruppe "Gemeinsame Bildung 2.0" gehört, will einen radikalen, an die Wurzel gehenden Umbau unseres Schulsystems. Wie sollte die "Schule der Zukunft" aussehen?

Astner: Ein Baustein ist für mich die gemeinsame Schule – aber nicht der einzige. Ich bin überzeugt, dass eine gemeinsame Bildung der Drei- bis 15-Jährigen für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen wird, dass damit Inklusion und Integration gefördert werden und wir mit dieser Schule die Potenziale jedes Kindes besser fördern können. Die Wahrheit ist: Es braucht kein Gymnasium in der Sekundarstufe 1, also der Unterstufe. Eine gemeinsame Schule wäre auch deshalb äußerst wichtig, weil soziale Durchmischung und Vielfalt in allen Bildungseinrichtungen gemeinsame und verbindende Erfahrungen ermöglicht und ich das für unsere Gesellschaft und unseren Staat als äußerst wichtig empfinde. Vor allem angesichts der gegenwärtigen Tendenzen. Stichworte: Auseinanderdriften! Sozialer Unfriede! Trend zu extremen Positionen!

STANDARD: Kritiker der gemeinsamen Schule argumentieren oft damit, dass sie den unterschiedlichen Begabungen nicht gerecht werden würde. Auch Bildungsminister Martin Polaschek tat das in einem STANDARD-Interview, das Sie auf Ihrer Website zitieren: "Durch ein differenziertes Schulsystem kann auf die individuellen Talente, Potenziale und Begabungen der Kinder eingegangen werden – und man kann sie gezielt fördern. Ich halte dieses System (...) in seiner derzeitigen Form daher für sinnvoll." Sie sehen das anders: Warum?

Astner: Weil die Realität zeigt, dass das derzeitige System versagt. 18 Prozent der Schülerinnen und Schüler können am Ende der Schulpflicht nicht einmal einfache Texte lesen, und Österreich hat im europäischen Vergleich eine schlechte Bilanz in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit. Unser System führt dazu, dass marginalisierte Kinder zusätzlich marginalisiert werden und eine Differenzierung nicht nach Leistungsfähigkeit, sondern nach dem Bildungsgrad der Eltern erfolgt. Im Gegensatz dazu gibt es in Europa viele Länder mit gemeinsamen Schulen, in denen sowohl Risikoschülerinnen und Risikoschüler als auch Top-Performerinnen und Top-Performer insgesamt besser abschneiden.

STANDARD: Was wären denn Ihre Argumente für eine gemeinsame Schule?

Astner: Eine gemeinsame Schule wird natürlich nicht alle Probleme lösen, aber sie hat viel Mehrwert zu bieten. Vor allem für Volksschulkinder würden sich viele Baustellen in Luft auflösen, zum Beispiel der Ziffernnotenselektionsdruck in der Volksschule, das falsche Lernen nur der Noten wegen, der Stress für so manche Eltern, ihr Kind auf Höchstleistungen zu trimmen, nur damit es ins Gymnasium kommt, wo wir bei vielen den jährlichen Einschreibewahnsinn sehen, was auch für die Volksschullehrkräfte eine schwierige Situation ist. Auch das krankhafte Konkurrenzdenken in der Schülerschaft und zwischen den Schulen fiele weg. Gemeinsam lernen hieße auch, dass die mangelnde förderliche Durchmischung in vielen Klassen und die untragbare Situation in besonders herausfordernden Schulen wegfielen.

STANDARD: Was sagen denn Ihre Kolleginnen und Kollegen dazu? Sie nehmen sich und Ihrem "Stand", den "Professorinnen" und "Professoren" in den AHS, ja auch etwas von dem elitären Mehrwert, den das gegliederte Schulsystem Ihnen bringt?

Astner: Ich wusste, worauf ich mich einlasse, als ich die Initiative vor drei Jahren gegründet habe. Die einen halten mich für einen Verräter, die schwarzen Gewerkschafter nennen mich den Totengräber ihres Schulwesens, manche Kollegen und Kolleginnen zollen mir Respekt, weil sie ähnlich denken. Im Großen und Ganzen ist es kein großes Thema, viele arbeiten vor sich hin und hinterfragen das System nicht kritisch. Eigentlich ist die Lehrerschaft sehr feige, aber das ist auch nicht verwunderlich: Der frühere Machtapparat hat volle Arbeit geleistet. Irgendwie schräg: Den Kindern und Jugendlichen erzählen wir, wie wichtig kritisches Denken ist, selbst aber haben wir damit große Schwierigkeiten. Auch mit der Solidarität. Die AHS-Lehrkräfte haben aber auch Angst.

STANDARD: Wovor und warum?

Astner: Sie fühlen sich nicht gut vorbereitet. Die meisten fragen sich: "Wie soll das funktionieren?" Vor allem jene, die immer noch frontal unterrichten, denen eine bestimmte Grundhaltung fehlt, die davon ausgehen, eine homogene Klasse vorzufinden, die nur auf Wissensvermittlung aus ist. Dabei haben wir ja auch in den Gymnasien heterogene Verhältnisse, an die wir uns anpassen sollten und müssen. Es knallt ja jetzt schon in Klassen, weil der Lehrer oder die Lehrerin, der Direktor oder die Direktorin und die betreffenden Schulen noch so tun, als wären wir noch im 20. Jahrhundert und als hätte die Gesellschaft sich nicht verändert. Leider auch ein Versagen des Systems, das immer hintennachhinkt, während sich die Schulsituation schon längst verändert hat.

STANDARD: Für die Gymnasien ist es auch bequem, wenn es unter ihnen noch ein "Auffangnetz" gibt, wo sie die Kinder "durchreichen" können, eben in die Mittelschule. Welche Erfahrungen machen Sie als AHS-Lehrer damit?

Astner: Der größte Teil meiner Kolleginnen und Kollegen versucht natürlich, möglichst alle in einer Klasse mitzunehmen. Was es mit der Psyche eines Kindes anstellt, es einfach aus der Klasse, aus der Schule weiterzureichen, ist uns sehr bewusst. Gleichzeitig kommen wir dem Druck, das "Niveau" unbedingt zu halten und alle schulisch möglichst gleich zu behandeln, oft auch nicht aus. Verstärkt wird das auch noch durch die Notengebung. Das macht etwas mit einem selbst, wenn man sagen muss: "Tut mir leid, für dich ist hier kein Platz." Das andere ist die systemische Ebene: Wenn ich alle auf dieser Reise zumindest bis zur vierten. Klasse Unterstufe mitnehmen möchte, habe ich den Unterricht anders zu konzipieren, meine Notengebung zu überdenken, die Schwächeren zu fördern und die Stärkeren zu fordern. Das geht auch an die eigene Substanz, vor allem wenn man kaum Unterstützung erhält und dauernd neue Aufgaben auf uns zukommen. Wir sind geradezu in einem Zwiespalt, den uns das System vermacht hat und der uns aufreibt, ohnmächtig zurücklässt und dazu führt, dass die einen beinhart aussieben und die anderen irgendwie mit viel Einsatz schauen, dass sie die Kinder heil durch die Unterstufe bringen.

STANDARD: Welche Voraussetzungen braucht eine gemeinsame Schule?

Astner: Eine gut gemachte gemeinsame Schule braucht primär eine andere Grundhaltung, ein anderes Verständnis von Bildung und Unterricht, Unterstützungspersonal und kleinere Klassen, die wir in den AHS, zumindest in den Städten, nicht haben. Und natürlich brauchen wir gute Arbeits- und Rahmenbedingungen für die Lehrerinnen und Lehrer. Um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gut bewältigen zu können, wird es nicht ausreichen, dass wir die klugen Köpfe in separaten Schulen bilden, sondern wir brauchen Menschen mit Herz und Verstand, damit wir zukunftsfähig werden. Das lernen sie am besten, wenn sie mit allen Kindern in Berührung kommen.

STANDARD: Welchen Zeithorizont sehen Sie für eine gemeinsame Schule?

Astner: So ein Systemwechsel braucht natürlich Zeit. Eine Einführung einer gemeinsamen Schule im nächsten Jahr wäre eine Katastrophe. In Finnland hat es zehn Jahre gebraucht. Wichtig wäre aber, jetzt zu beginnen. Dazu benötigt es aber einen raschen Schulterschluss der Parteien, eine Entideologisierung und eine Arbeitsgruppe, die Schritt für Schritt unter Einbeziehung von Expertinnen und Experten eine gemeinsame Bildung plant und umsetzt. (Lisa Nimmervoll, 13.4.2023)