Günther Neukirchner stand bei Sturms Meisterfeier 1998 im Zentrum des Jubels in Graz, rechts neben ihm Mario Posch.

Foto: GEPA Pictures / Alfons Kowatsch

Neukirchner ist aktuell Entwicklungscoach und hilft jungen Spielern beim Übergang in die zweite oder gar erste Mannschaft.

Foto: ERWIN SCHERIAU / APA / picturedesk.com

"Wir haben gewusst, an dem Tag hält uns niemand auf." Günther Neukirchner erinnert sich zurück, erinnert sich an den 13. April 1998. Ein Ostermontag und ein historisches Datum für Sturm Graz. Am 13. April 1998 fixierten die Steirer ihren ersten Fußballmeistertitel. Die Austria aus Wien hielt Sturm garantiert nicht auf, ist im nigelnagelneuen Schwarzenegger-Stadion 0:5 untergegangen. Für Neukirchner, ansonsten in der Verteidigung gesetzt, hatte das Match eher unerfreulich, weil auf der Ersatzbank begonnen.

Das Ende war umso erfreulicher, Trainer Ivica Osim wechselte ihn in der 77. Minute ein, als es nach Toren von Hannes Reinmayr (35.), Mario Haas (39.) und Markus Schupp (53.) 3:0 stand. Neukirchner bereitete das vierte Goal durch Tomislav Kocijan (82.) vor und gratulierte noch Gilbert Prilasnig (88.), der zum Endstand traf.

Am 29. Spieltag, sieben Runden vor Ende, stand Sturm als Meister fest. Letztlich kamen 81 Punkte heraus, der Rekordvorsprung auf Rapid betrug 19 Zähler, das Torverhältnis (80:28) war ein Traum. Für 46 der 80 Goals zeichnete das "magische Dreieck" aus Mario Haas (17 Tore), Hannes Reinmayr (15) und Ivica Vastic (14) verantwortlich. Doch in Wahrheit war Sturm ein magisches Elfeck. "Die drei haben gewusst, was sie an uns Defensiven gehabt haben. Und wir, die Defensiven, haben gewusst, was wir an den dreien hatten", sagt Neukirchner (51). Conclusio: "Wir waren eine eingeschworene Partie."

Es zeichnete sich ab

Der Meistertitel hing schon länger in der Luft. Sturm war zuvor zweimal als Vize knapp dran, 1995 punktegleich mit der Salzburger Austria, 1996 erst in letzter Runde von Rapid entscheidend geschlagen, hatte zwei Cupsiege eingefahren. Trainer Osim, Manager Heinz Schilcher, Klubpräsident Hannes Kartnig – auch das waren drei wesentliche Eckpfeiler. Neukirchner: "Es gab immer wieder gute Eigenbauspieler. Und Osim hat die Mannschaft sukzessive gut verstärkt."

Die Geschichte des Günther Neukirchner ist fast sinnbildlich für den Aufschwung von Sturm Graz. Heute gilt er vielen als "Mister Sturm", seit 2016 ist er Ehrenkapitän (wie Mario Haas und Andy Pichler), 2019 wurde er zum 110. Vereinsgeburtstag als "Dauerbrenner" geehrt. Tatsächlich blickt Neukirchner auf 421 Bundesligaspiele für Sturm zurück, in anderer Zählweise waren es 411 Spiele (ohne mittleres Playoff). Eine Zeitlang war Neukirchner Rekordhalter, allein Haas (451) zog vorbei. Neukirchner: "Dabei bin ich, bevor Osim kam, fast schon weg gewesen."

Weg in doppelter Hinsicht. Neukirchner, der in seinen ersten Jahren Stürmer spielte – "Arnold Wetl links, ich rechts" – war bei Trainer Milan Đuričić in Ungnade gefallen, hatte seinen Stammplatz verloren. Die zweitklassige SV Oberwart bekundete Interesse, zudem tat sich ein Jobangebot der Bergarbeiterversicherung auf. Doch aus Oberwart wurde nichts, weil Sturm-Trainer Đuričić seinerseits bei Kartnig in Ungnade fiel – und weil Schilcher dann mit Osim daherkam. Der wollte Neukirchner im Training sehen, und als er genug gesehen hatte, fragte er Kartnig: "Wieso wollt ihr den gehen lassen?"

Klapprad im Kofferraum

Also ist Günther Neukirchner geblieben. Wobei er auch bei der Bergarbeiterversicherung blieb. Die Zeiten waren halt noch ganz andere – vor dem Euro, vor der Dreipunkteregel (mehr Prämien!), vor dem Bosman-Urteil. "Heute kriegen Landesligakicker mehr als ich seinerzeit bei Sturm", sagt Neukirchner.

Die Doppelbelastung war freilich zwei Jahre lang nicht ohne. Kurz nach fünf stand er auf, kurz vor sechs war er im Büro. "Ich hab mir ein kleines Klapprad gekauft und in den Kofferraum gegeben. Wenn ich mit dem Auto weiter weg gestanden bin, hab ich das Klapprad genommen und bin zum Büro geradelt, um Zeit zu sparen." Nach der Arbeit ging’s ins Nachmittagstraining. Der Urlaub ging für die Trainingslager drauf, Neukirchner lernte "Selbstdisziplin und Konsequenz".

Osim hat Neukirchner, der auch mit "Gü" und "Güschi" leben kann, den Spitznamen "Güsch" verpasst und in einen Verteidiger verwandelt. Vor einem Uefa-Cup-Qualifikationsspiel in Prag gegen Slavia stand Sturm kurzfristig ohne Libero da, Osim sagte zu Neukirchner: "Machst du das!" Eine Feststellung, keine Frage. Neukirchner: "Trainer, ich hab das noch nie gespielt." Osim: "Weiß ich, kannst du das!" Neukirchner konnte das, Sturm erreichte ein 1:1, schied allerdings mit einem Gesamtscore von 1:2 aus.

"Das ist die nächste depperte Frog"

Eine feine Story der Plattform SturmNetz (sturmnetz.at) beschrieb schon anlässlich seines 50ers Neukirchners einzigartige Sturm-Karriere. 1980, keine zehn Jahre alt, kam er sich vorstellen. Von Trainer Gustl Starek wurde er in die "Erste" geholt. Am 31. August 1991 erzielte er in der Gruabn, der legendären Sturm-Heimstätte, beim 1:0 gegen St. Pölten sein erstes Bundesliga-Tor. Die Trainer – Robert Pflug, Ladislav Jurkemik, Đuričić – kamen und gingen, Neukirchner blieb. Nach den ersten zwei Osim-Jahren kündigte er bei der Versicherung, stellte das Klapprad in den Keller und wurde wieder Vollprofi.

Sturm trumpfte phasenweise in der Champions League auf, war 2000/01 sogar Gruppensieger. Neukirchner und Sturm liefen in jenen Jahren Kaliber wie Real Madrid, Inter Mailand und Manchester United über den Weg. Doch dann ließ Hannes Kartnig Haifische in seinem Pool schwimmen, das überlebten sie nicht, und auch mit Sturm ging es bergab.

In der Phase gab Neukirchner nach einem 0:4 gegen den GAK das legendäre Sky-TV-Interview, das ein Youtube-Hit wurde und ihm viele Schulterklopfer bescherte. "Das ist die nächste depperte Frog’" ist ein geflügeltes Wort wie Anton Pfeffers "Hoch wermas nimmer gwinnen". Neukirchner war eine Zeitlang genervt, weil er so oft darauf angeredet wurde. Mittlerweile steht er drüber.

"Das ist die nächste depperte Frog"
Sky Sport Austria

Was ihn sehr wohl wurmt, ist die Tatsache, dass der Fußballbund, ohne ihm ein Wort zu sagen, "sein" Zitat in die EM-Hymne einbauen ließ. Da konstatiert Teamchef Ralf Rangnick "die nächste depperte Frog". Mag aber sein, Neukirchners Verstimmung hat damit zu tun, dass er sich auch am Ende seiner 14 Spiele währenden Teamkarriere vom ÖFB düpiert fühlte. Dieser hatte 2001 den Kickern freigestellt, ins unsichere Israel mitzureisen oder nicht. "Es hieß, es gibt keine Konsequenzen", sagt Neukirchner, dessen Frau Petra damals schwanger war. "Und dann wurden wir als die Buhmänner hingestellt."

Das ÖFB-Lied mit Neukirchner-Hommage.
ÖFB

Es hat ihn sehr gefreut

Ehrenvoller war der Abschied bei Sturm. Vor dem Heimspiel gegen Pasching am 30. August 2006 verfasste er einen Brief, in dem er sich bei den Fans bedankte, er ließ 2.000 Flugblätter davon drucken und sie vor dem Stadion auflegen. Nach dem Spiel standen die Kollegen mit "Danke Güsch"-Leiberln Spalier. Neukirchner spielte noch 16-mal für Gratkorn, aber natürlich kehrte er zurück.

Assistenztrainer war er, interimistisch auch Cheftrainer. Jetzt ist er Entwicklungscoach und hilft jungen Spielern beim Übergang in die zweite oder gar erste Mannschaft. Dafür ist er prädestiniert, der an der Pädagogischen Hochschule (Mathematik, Sport) studierte und an der SMS Graz Brucknerstraße unterrichtet.

Am wohlsten fühlt sich Neukirchner unter Freunden und in der Familie. Die Kinder sind aus dem Gröbsten heraußen, Tochter Anna (22) studiert Medien- und Kommunikationswissenschaften, Sohn Paul (19) absolviert sein freiwilliges soziales Jahr, ist Co-Trainer der U8 von Sturm und kickt auch selbst, beim Grazer Sportklub. Dessen Heimstätte ist übrigens die gute, alte Gruabn, wo einst der Stern von Günther Neukirchner aufgegangen ist. "Das taugt mir", sagt er, "so schließt sich der Kreis." (Fritz Neumann, 13.4.2023)