Ein T-55 auf einem Zug in Russland. Das Modell im Bild dürfte in Syrien von den Russen erbeutet worden sein.

Foto: Alexander Zemlianichenko, AP

Ein zufällig aufgenommenes Video verbreitete sich in den vergangenen Wochen in Social Media wie ein Lauffeuer. In dem von den georgischen Konfliktforschern des Conflict Intelligence Team veröffentlichten Clip sind russische Panzer auf einem Zugwaggon zu sehen – in Zeiten wie diesen leider kein seltener Anblick.

Doch die vermeintlich alltägliche Fracht ließ unter Kennern einige Augenbrauen hochgehen: Hier wurden offensichtlich alte Panzer vom Typ T-54/55 aus der Region Primorje in Richtung Westrussland transportiert. In den einschlägigen Onlineforen wollte man anfangs gar nicht glauben, was man da sah. Tatsächlich wurde spekuliert, das antike Kriegsgerät würde für die traditionellen russischen Militärparaden im Mai wieder flottgemacht. Doch mittlerweile ist klar: Die T-55 sollen an die Front in der Ukraine rollen, wie auch russische Quellen bestätigen. Tatsächlich gab es am Donnerstag erste Meldungen, wonach Russland die ersten T-55 in der Region um Saporischschja in Stellung gebracht hat. Doch was sind T-54 und T-55? Und welche Chance haben mindestens 70 Jahre alte Kampfpanzer auf einem modernen Gefechtsfeld?

Veraltetes Schutzkonzept

Letztere Frage lässt sich leicht beantworten: In hochintensiven Gefechtssituationen, wie sie in der Ukraine vorherrschen, gibt es für den T-55 und dessen vierköpfige Besatzung nur äußerst geringe Überlebenschancen. Das liegt vor allem am veralteten Schutzkonzept des Panzers, denn beide Modelle sind noch mit herkömmlichem Panzerstahl geschützt. Als der T-54 im Jahr 1947 in den Dienst gestellt wurde, war bereits klar, dass Panzerstahl allein gegen moderne Panzerabwehrwaffen keinen ausreichenden Schutz mehr bietet. Diese Entwicklung hatte sich bereits gegen Ende des Zweiten Weltkriegs abgezeichnet und bereitete nicht nur den Panzerbauern in der Sowjetunion Sorge.

Als 1958 der Nachfolger des T-54, der optisch recht ähnliche T-55, in den Dienst gestellt wurde, war auch dieser nur mit Panzerstahl geschützt. Der klingt auf dem Papier mit einer Stärke von bis zu 200 Millimetern auch recht dick, bietet gegen moderne Panzerabwehrwaffen jedoch so gut wie keinen Schutz. Zum Vergleich: Die Durchschlagsleistung der schultergestützten Panzerabwehrlenkwaffe NLAW aus Schweden wird mit mindestens 500 Millimetern Panzerstahl angegeben.

Die Mär vom "großkalibrigen Scharfschützen"

Die russische Propaganda versucht hingegen, die Vorzüge des Panzers aus den 50er-Jahren hervorzuheben. Beim T-55 handle es sich um einen "großkalibrigen Scharfschützen", heißt es etwa in einem Beitrag der "Rossijskaja Gaseta", dem Amtsblatt der russischen Regierung. In dem Artikel wird auch bestätigt, dass Russland den Einsatz der obsoleten Panzer in der Ukraine plant. Dennoch stilisiert man in Putins Reich den T-54/55 zu einer Art "Wunderwaffe" hoch, wie man es zuletzt auch bei T-14 Armata und dem BMPT Terminator erlebt hat. Demnach sei die Kanone des T-55, die 100-mm-D102TS mit gezogenem Rohr, extrem genau. "Auf eine Entfernung von 1.000 Metern trifft die hochexplosive Splittergranate den Punkt, auf den der Schütze gezielt hat."

The Tank Museum

Das mag beeindruckend klingen, war aber schon bald nach der Indienststellung des Kampfpanzers in der Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht mehr die Spitze des technisch Möglichen. Tatsächlich dürfte die Treffergenauigkeit der Kanone eher bei 65 Prozent liegen. Auch die effektive Reichweite von 1.000 bis 1.600 Metern ist heute längst nicht mehr ausreichend. Zum Vergleich: Die Hauptwaffe des Leopard 2 und des M1A2 Abrams, die 120-mm-Kanone Rh120, hat eine effektive Reichweite von über vier Kilometern.

Dennoch betont die russische Zeitung auf originelle Weise weitere Vorteile: Westliche Panzer wären kampfunfähig, wenn erst einmal die sensiblen Optiken beschädigt seien. Da der T-55 über derartig komplexe Bauteile gar nicht erst verfügt, könne er nicht so leicht ausgeschaltet werden, so die etwas eigenwillig anmutende Argumentation aus Russland.

Extreme Enge im Kampfraum

Die vierköpfige Besatzung des T-54/55 muss in einem extrem beengten Kampfraum zurechtkommen. Anders als spätere Modelle verfügt der T-54/55 noch über kein automatisches Nachladesystem, weshalb ein Ladeschütze zusätzlich zu Kommandant, Fahrer und Richtschütze in dem vergleichsweise kleinen Panzer Platz finden muss.

Ein Blick in das Innere eines T-55A.
The Chieftain

Die T-54 und T-55 haben aber auch Vorteile: Sie sind zahlreich vorhanden. So wurden laut Schätzungen des Kurators des Tank Museum in Bovington, David Willey, bis zu 100.000 Stück produziert. Dementsprechend gut ist auch die Versorgung mit Ersatzteilen. Die beiden Panzermodelle kommen auch völlig ohne moderne Elektronik aus, was die Instandsetzung für die russische Armee erleichtern dürfte. Wobei auch fraglich ist, wie viele T-54/55 noch selbstständig aus dem Depot rollen können.

Eine der letzten unabhängigen Zeitungen Russlands, die "Narodnaja Wolja", berichtet via "Forbes", dass nur noch 250 Stück der antiken Sowjetpanzer überhaupt reparierbar sein könnten. Russischen Berichten zufolge werden die T-54/55 aktuell mit neuen Feuerleitanlagen und neuen Optiken für die Kanone ausgestattet. Durch die ansonsten extrem simple Bauweise können auch weniger gut geübte Panzerbesatzungen einen T-55 bedienen.

T-54/55 sollen Zeit verschaffen

Laut einem Bericht des Institute for the Study of War (ISW) hofft die russische Führung offenbar darauf, mit dem Einsatz der mindestens 70 Jahre alten Panzer ein wenig Zeit zu gewinnen, um die Produktion modernerer Modelle wie des T-72 oder des T-90 anzukurbeln. Dass dies gelingt, darf aber nicht nur wegen der völligen Unterlegenheit der T-54/55 auf einem Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts bezweifelt werden.

Ein T-55 in Libyen auf einem Bild aus dem Jahr 2016.
Foto: GORAN TOMASEVIC

"Die einzige russische Panzerfabrik, Uralwagonsawod, produziert Berichten zufolge 20 Panzer pro Monat. Es würde über sechs Jahre dauern, um Putins Ziel in diesem Tempo zu erreichen", heißt es in dem Bericht. Der Kreml werde daher wahrscheinlich weiterhin archaische Panzer aus dem Lager holen. Ein Kreml-Experte erklärte in einer Livesendung am 25. März, Russland werde alte T-34-Panzer von Denkmälern holen, wenn dies für die Kriegsanstrengungen erforderlich sei, so das ISW weiter. Der T-34 ist ein sowjetisches Panzermodell aus dem Zweiten Weltkrieg und wird heute noch gerne für Propagandazwecke eingesetzt.

Auch die Ukraine setzt den T-55 ein

Aber auch die Ukraine setzt den T-55 noch ein, wenn auch in einer modernisierten Form. Slowenien lieferte im Oktober 2022 28 Panzer vom Typ M-55S an die Ukraine. Dabei handelt es sich um nichts anderes als einen von Grund auf modernisierten T-55. Die slowenischen Modelle wurden mit Laserentfernungsmessern, 105-mm-Kanonen vom Typ L7, einem modernen Feuerleitrechner und neuen Optiken ausgestattet. All die Modernisierung können aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich im Kern um ein kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeltes Panzermodell handelt. Tatsächlich könnte man den T-55 sogar als ukrainisches Produkt bezeichnen: Entworfen wurde der Panzer ursprünglich vom Maschinenbauunternehmen Morozow in Charkiw.

Abverkauf im Schrotthandel

Sind die T-54/55 also hoffnungslos veralteter Schrott? Ja, sagt man zumindest auf der ukrainischen Seite. Im Jahr 1994 hat die Ukraine 1.200 T-55 als Altmetall verkauft – die meisten Panzer gingen damals nach Deutschland, wo der Stahl recycelt wurde. Aber auch in Russland selbst dachte man lange nicht daran, die greisen Kalten Krieger noch einmal einzusetzen: In den 2010er-Jahren wurde ein erheblicher Anteil des einstigen Rückgrats der Panzertruppe verkauft – ebenfalls zum Schrottpreis. Das ist auch der Grund, warum viele T-55 in die Hände privater Sammler kamen, wo sie als das dienen, was sie eigentlich sind: Museumsstücke. (Peter Zellinger, 14.4.2023)