Astana – Eines der Highlights dieser WM sind bislang die Kommentare von Anish Giri. Gemeinsam mit seinen beiden Großmeisterkollegen Daniel Naroditsky und David Howell bereitet der Weltklassemann die Partien für das Publikum des Live-Streams der Plattform chess.com nicht nur lehrreich, sondern vor allem äußerst unterhaltsam auf. Es gibt keine Stellung, zu der Giri nicht sofort eine wichtige Vorgänger- oder Vergleichspartie einfällt, meistens eine, bei der er selbst am Brett gesessen ist.

Ding Liren am Weg zur Arbeit.
Foto: IMAGO/SNA/Grigory Sysoev

Während Partie drei schwor der Niederländer etwa Stein und Bein, dass die beiden WM-Kontrahenten absichtlich einer von ihm, Giri, gegen Ding Liren gespielten Schnellpartie folgen würden. Nur leider wüssten sie offenbar beide nicht, dass er bei dieser Partie nur improvisiert habe – und das auch noch schlecht. Demnächst, so feixte Giri im Stream, werde Jan Nepomnjaschtschi auffallen, dass das von ihm, Giri, in die Praxis eingeführte Manöver, das Nepo offenbar in der Erinnerung haften geblieben sei, eigentlich vorne und hinten nicht funktioniere.

Das Witzige ist, dass es allermeistens so kommt, wie Anish Giri es vorhersagt. In Partie drei stand Nepo mit seinem Giri-Manöver bald vor einer chinesischen Mauer und musste mit Weiß spielend auf Schadensbegrenzung umschalten.

5.000 Pillen

In Partie vier ist es nach dem 28. schwarzen Zug Sd4?? für eine Begrenzung des Schadens dagegen zu spät. Mit dem wunderschönen Qualitätsopfer 29. Txd4! führt der die weißen Steine bewegende Ding Liren eine trotz Materialnachteils strategisch absolut gewonnene Stellung herbei.

Und Anish Giri ist natürlich der erste, der im Livestream den Kiebitzen in aller Welt wortreich und in bunten Farben erläutert, warum ein Springer in dieser geschlossenen Struktur im Verein mit dem gedeckten Freibauern auf e6 jedem Turm überlegen ist; und was er, Giri, nicht dafür geben würde, eine solche Stellung in einem WM-Match einmal selbst auf dem Brett zu haben.

"Diese Stellung ist wie 5.000 Pillen gegen eine Depression!", ruft Giri begeistert aus, der Schwarz, als Ding Liren seinen e-Bauern im 36. Zug auf die 7. Reihe schiebt, gleich 20 Züge schenken möchte: weil auch das dem frustriert hinter seinem Trümmerhaufen hockenden Jan Nepomnjaschtschi nicht mehr helfen würde, seine Schwerfiguren aus dem Gefängnis zu befreien, dessen Schlüssel die weiße Springerkrake auf f5 verschluckt hat.

Nepo schleppt seine Stellung noch wie einen Mühlstein über die Zeitkontrolle, gibt Qualität und Bauer zurück, aber es hilft alles nichts: Der weiße Verderber auf e7 kostet den Russen in dieser Partie Kopf und Kragen. Nach 47 Zügen ist Schluss, der erste Sieg für Ding Liren ist unterschriftsreif.

Labyrinth der Erinnerungen

Aber wie konnte es überhaupt zu diesem Umschwung kommen? Zunächst durch eine Englische Eröffnung, die zu den Lieblingsspielanfängen Ding Lirens zählt. Schon nach zehn Zügen befinden sich die Kontrahenten dabei auf theoretischem Neuland, weil Nepomnjaschtschi seinen Springer auf f4 zum Tausch angeboten und Ding mit seinem schwarzfeldrigen Läufer zugegriffen hat: eine Nebenvariante in dieser Rossolimo-Struktur mit vertauschten Farben; und eine Stellung, von der beide Spieler in der Pressekonferenz nach der Partie angeben werden, sie nicht mehr genau gekannt zu haben.

Es ist ein Muster, das sich nicht erst bei dieser WM wiederholt, man kennt es auch aus den vergangenen WM-Wettkämpfen unter Beteiligung Magnus Carlsens: Einer der Duellanten bringt früh eine etwas fragwürdige Neuerung, um seinen Gegner aus dessen Auto-Play-Modus zu werfen. Wenige Züge später steht eine unklare Stellung auf dem Brett, in der sich auch jener Spieler, der sie durch seine Neuerung scheinbar gezielt herbeigeführt hat, nicht mehr wirklich auskennt.

Ding im Vorteil.
Foto: IMAGO/SNA/Grigory Sysoev

So geschehen in Dings erster Weißpartie in diesem Wettkampf, in der der Chinese in der Folge seines Experiments 4.h3!? von Jan Nepomnjaschtschi ziemlich böse gegen die Wand geklatscht wurde. So auch geschehen in Partie drei, als Nepo sich im Labyrinth seiner Karlsbader Erinnerungen verlief.

Fast könnte man angesichts dessen die provokante Frage stellen: Wozu eigentlich immer diese monatelange Vorbereitung, wenn die Spieler am Brett ohnehin das Meiste vergessen haben? Im modernen, die Eröffnung fetischisierenden Profischach grenzte ein solcher Gedanke freilich an Häresie.

Dynamisches Duo

Obwohl beide Gladiatoren in dieser vierten Partie ausgangs der Eröffnung ihre Erinnerung im Stich lässt und sie mehrmals nicht das Beste treffen, gelingt es Ding Liren, die Initiative an sich zu reißen. Mit dem unternehmungslustigen Bauernopfer 15. c5!? macht der Chinese seinem Zentralbauernduo den Weg frei, das bald in die gegnerische Spielhälfte vorrückt und die schwarze Stellung in zwei kaum mehr verbundene Teile scheidet.

Nepomnjaschtschi nimmt eine Auffangstellung ein und bastelt mit 23…f6 an einer schwarzfeldrigen Blockade des dynamischen Duos. Das sieht durchaus stabil aus, und nach 28. Df3 wäre es für den Schwarzen an der Zeit, seinen vorwitzigen f4-Bauern mit 28…g5 zu erden – vielleicht verbunden mit der Idee, dem weißen Zentrumsdruck eine Bauernwalze am Königsflügel entgegenzusetzen.

Nepomnjaschtschi in Schwierigkeiten.
Foto: IMAGO/SNA/Grigory Sysoev

Stattdessen lädt Nepo seinen Gegner nach nur kurzem Nachdenken – und ohne in Zeitnot zu verkehren – mit 28…Sd4?? zu jenem lehrbuchmäßigen Opfer seines Turms gegen den schwarzen Springer ein, das Kommentator Giri fast die Freudentränen in die Augen treibt.

Chinesischer Trend

Ding schiebt Nepo in der Folge geradezu genussvoll positionell zusammen. Wie aus einer Simultanvorstellung, in der ein Meister einen Patzer dominiert, sehe das alles aus, schwärmt Giri, der Nepomnjaschtschi nach dieser Niederlage psychologisch so schwer unter Druck sieht, dass er die Chancen auf einen WM-Sieg Ding Lirens bei 80 Prozent ansetzt – dabei steht es nach Dings Sieg 2:2 unentschieden!

Was allerdings richtig ist: Der Trend dieser WM zeigt nach Partie vier eindeutig in die chinesische Richtung. Ding hat von Partie zu Partie besser ins Match gefunden, während Nepomnjaschtschi mit seinem Aussetzer in dieser vierten Partie zu jenem unglücklichen Muster zurückzukehren scheint, das ihn gegen Magnus Carlsen 2021 nach starkem Beginn untergehen ließ.

Am Freitag wird gerastet, am Samstag könnte in Partie fünf dann doch alles wieder ganz anders kommen. Denn diese Schach-WM hat in Wahrheit gerade erst begonnen. (Anatol Vitouch, 13.4.2023)