Zwischen "Das wurde aus? Ja, wieso nicht?!" und "Das war ja fast wie eine Therapiestunde" liegen nur wenige Tage. Zwischen dem 14-jährigen Mädchen, das sich auf der Suche nach einer Kürmusik stundenlang durch die CD-Abteilung im Grazer Kaufhaus Kastner & Öhler wühlt, und der 42-jährigen Frau, die da in einem Wiener Lokal auf ihre Karriere zurückblickt, liegen fast 28 Jahre.

Es sind großteils gute Erinnerungen, die Sissi Jarz an ihre Zeit als beste Voltigiererin Österreichs hat. Eine Zeit, mit der sie abgeschlossen hat – und die sie doch nicht loslässt: "Ich träume immer wieder von Wettkämpfen, obwohl ich so lange bei keinem war." Es sind stressige Träume: "Irgendetwas geht immer schief: Das Pferd macht Probleme, mit der Musik stimmt etwas nicht, ich vergesse meine Kür."

Sissi Jarz einst: Als Teufel holt sie Gold bei der Europameisterschaft.
Foto: APA/Michael Rzepa

Das Leben im Sport ist ein Leben in Abhängigkeiten. Das klingt problematischer, als es ist. Und doch lebt man in erster Linie als Junkie, als Besessener oder Besessene von Erfolg und Anerkennung: Spitze statt Spritze. Anstrengend? Ja. Kompliziert? Überhaupt nicht. Das Leben könnte nicht einfacher sein: "Es gibt ein Ziel, und du weißt ganz genau, was du tun musst. Will ich Weltmeister werden, muss ich trainieren und besser werden. Daneben gibt es nichts", sagt Jarz. Easy. Das gilt für die Biathletin, den Fußballstar, das Tennistalent – und eben auch für die Voltigiererin, wie Jarz eine war. Öffentliche Aufmerksamkeit ist dabei kein Maßstab, es ist egal, ob das Ergebnis auf der Titelseite oder im Lokalteil vermeldet wird.

Pizza Hawaii

Der Voltigiersport hat gelinde gesagt kein Abo auf die Titelseiten. Dabei bietet er eine feine Mischung aus Show, Akrobatik und Turnen – auf dem Rücken eines Pferdes, das geführt an einer Longe im Kreis galoppiert. Was wie die Pizza Hawaii des Sports klingt, ist eine immens komplexe Herausforderung an Mensch und Tier. Es geht um Konzentration, Gleichgewicht, um Körperbeherrschung, aber auch Mut. Die meisten Voltigierpferde sind zwischen 1,70 Meter und 1,85 Meter groß. So hoch der Aufstieg auf das Tier ist, so steil bergauf ging es mit Jarz’ Voltigierkarriere, sie zeigte Talent, war bald das Nonplusultra in Österreich. Bis es plötzlich hieß: 2-(1-Hydroxyethyl) Promazine und 2-(1-Hydroxyethyl) 7-Hydroxy-Promazine.

Jarz wächst in Graz auf, die Familie ist sportlich, der Vater war passionierter Judoka. Verhältnismäßig spät findet sie, über eine Nachbarin, zum Voltigieren: "Sie hat mich einfach mitgenommen", erinnert sich Jarz. Dass es daheim einen Hof gab, war natürlich zuträglich, ihr Mädchentraum ("ein Pony") wurde ihr erfüllt. Und doch sieht sie sich selbst nicht als klassisches "Pferdemädchen. Ich hatte keine Poster im Zimmer oder bin ausgerastet, wenn ich ein Pferd sah. Später liebte ich vor allem meine eigenen Tiere."

Sissi Jarz heute: "Man steht im luftleeren Raum, fragt sich, was nach dieser emotionalen und intensiven Zeit noch kommen soll."
Foto: Philipp Hutter

Der Sport wird zur Passion, nimmt bald den gesamten Alltag des Teenagers ein. Mit Erfolg: Der erste Staatsmeistertitel geht 1999 an Jarz, insgesamt kürte sie sich viermal zur besten Voltigiererin des Landes. Der Plafond war noch lange nicht erreicht. Dabei half ihr vor allem der Background mit Ballett und Geräteturnen. "Ich hatte in meinem Leben nicht besonders viele Reitstunden", sagt sie heute. Das ist für jemanden, der einen großen Teil seines Lebens auf dem Rücken eines Pferdes verbracht hat, bemerkenswert. Insgesamt voltigierte Jarz während ihrer Karriere auf acht Pferden. Welches war das beste? "Der letzte, Pitucelli."

Ein Voltigierpferd muss spezielle Voraussetzungen mitbringen, es muss "charakterlich in der Lage sein, dass du wie eine Irre auf ihm herumturnst". Denn: Wenn das Tier einen falschen Schritt macht oder buckelt, ist des für den Sportler oder die Sportlerin vorbei: "Man ist unten." Von gröberen Verletzungen wurde Jarz während ihrer Karriere verschont. Nach den Trainings war sie dennoch immer "grün und blau", wie sie heute erzählt. Normal.

Kein Ponyhof

Jarz näherte sich immer weiter dem Zenit ihrer Karriere, 2005 holte sie bei der EM die Bronzemedaille, ehe es bei den Weltreiterspielen 2006 in Aachen zum Eklat kommt. Ihr Pferd Escudo Fox wird positiv auf ein Beruhigungsmittel getestet, der dritte Platz annulliert. "Weltuntergang", nennt sie es heute. Erklären kann sie sich die positive Probe nicht. "Es war eine ganz geringe Menge. Keine Ahnung, wie es dazu kam." Das Turnier stand unter keinem guten Stern: "Während meiner Übung zog ein Unwetter auf, der Regen prasselte so laut auf das Dach, ich hörte die Musik nicht mehr, und das Pferd ging durch."

Die beste Kür.
bide38

Die damals 26-Jährige wurde zwei Monate gesperrt, der Ruf war angekratzt. Nach der Sperre holte sie mit einer aufsehenerregenden Kür bei der EM in Ungarn die Goldmedaille. Im Teufelsoutfit zu Beethovens Fünfter: "Meine Beste." Als krönender Abschluss folgte 2008 die WM-Silbermedaille. Dann war Schluss: "Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören." Schon neben ihrem Pädagogikstudium versuchte sie sich als Trainerin, musste aber bald einsehen, dass "ich nicht einfach danebenstehen konnte". Der Reiz, die Sucht nach dem Wettkampf war zu groß. Ein Cut musste her. Jarz übersiedelte nach Wien, arbeitet heute als Personal Assistant und Executive Assistant.

Immer wieder schimmert ein wenig Wehmut durch, wenn sie über ihre Zeit auf dem Pferd spricht. Und das Ende ihrer Karriere: "Man steht im luftleeren Raum, fragt sich, was nach dieser emotionalen und intensiven Zeit noch kommen soll." Aber auch: "Ich kann jetzt alles machen, auf das ich zuvor verzichten musste." Manchmal ist das Leben doch ein Ponyhof. (Andreas Hagenauer, 17.4.2023)