Die Kugeln sind gefallen. N-44. Endlich. Hände schnellen in die Höhe, sie halten goldglitzernde Stöckelschuhskulpturen. Für Sassica Rabbit, Miss Patty Fanny und Lexi Labor ist das das Zeichen: An den Tischen wird Pfefferminzlikör gewünscht.

VIDEO-REPORTAGE: Dragqueen Candy Licious liest Kinderbücher vor. Zu den Lesungen kommen Kinder und Erwachsene, und die Polizei. DER STANDARD war bei der umstrittenen Veranstaltung dabei.
DER STANDARD

Der wird in dem abgedunkelten Raum des Wachsfigurenkabinetts Madame Tussauds im Wiener Prater immer dann ausgeschenkt, wenn eine Schnapszahl – 11, 22 und so weiter – gezogen wurde. Oder die 69. Sex geht bei den drei Dragqueens eben vor mathematischer Korrektheit. Da kann die Figur von James-Bond-Darsteller Daniel Craig noch so streng schauen.

Die Kugeln werden gemischt, der Pfefferminzlikör steht bereit.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

G-48. "Yesss!" I-16. "Ja!" B-37. "Wuhuuu!" Bei N-37 ist der Höhepunkt erreicht – gleich für zwei Gäste. Ihre "Box" ist voll: Von den 25 Zahlen auf ihren Zetteln wurden all jene, die in der Mitte aufgedruckt sind, aufgerufen. Die beiden gewinnen Duftkerzen.

Popkulturelles Phänomen

Es ist Bingo-Abend – und alle gut 15 Tische inmitten der Promi-Nachbildungen sind besetzt. Drei Runden werden gespielt, dazu machen Sassica, Patty und Lexi ihre Show: Es gibt Comedy, Lip Sync und Gesang; und den einen oder anderen anzüglichen Schmäh – übereinander und mit dem Publikum.

Miss Patty Fanny, Sassica Rabbit und Lexi Labor haben sich für den Bingo-Abend bei Madame Tussauds herausgeputzt.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Drag-Veranstaltungen erleben gerade einen Hype. Ausgehend von den USA haben sich Drag-Lesungen, Drag-Brunches und Drag-Races, bei denen Queens gegeneinander antreten, von einem Nischenprogramm zu einem popkulturellen Phänomen entwickelt.

"Voguing" wird mittlerweile in Tanzschulen der Großstädte angeboten: Die Bewegungen stammen aus der in den 1970ern im New Yorker Stadtteil Harlem entstandenen marginalisierten Szene der schwarzen homosexuellen Subkultur.

Zuletzt verschaffte die Netflix-Serie Pose diesem auch von weißen Homosexuellen ausgegrenzten Teil der Gesellschaft, seiner Mode, seinen Tänzen und Performances eine größere Bekanntheit. In Wien findet man beispielsweise Referenzen auf Queer-Partys wie den zweimal im Monat stattfindenden Rhinoplasty Club.

Miss Patty Fannys Kostüme sind handgemacht – sie ist ausgebildete Schneiderin und Sängerin.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Und die Vienna Pride, die mit Veranstaltungen die Rechte und Forderungen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender-, queeren und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTQI) in den Fokus rückt, zieht schon lange auch ein Publikum von außerhalb der eigenen Szene an.

Buntes Publikum

Dasselbe gilt für das Vienna Boylesque Festival. Es wurde 2014 vom Performancekünstler Jacques Patriaque gegründet, um "für eine vorurteilsfreie und tabulose Welt, die informiert, unterhält und aufklärt", zu kämpfen. Nächstes Jahr soll es erstmals als "Yaaas Vienna" stattfinden. Die Veranstaltung sei "längst nicht der LGBT-Community vorbehalten", sondern "begrüßt ein Publikum, das mindestens so bunt ist wie die Show auf der Bühne", sagt Jacques Patriaque.

Drag habe bei der ursprünglichen Gründungsidee des Festivals eine zentrale Rolle gespielt. Inzwischen sei es "voll im Mainstream angekommen".

Früher seien Dragqueens auf Partys das Zwischenprogramm gewesen, sagte Lexi Labor. "Jetzt sind sie der Hauptact."
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Noch vor wenigen Jahren gab es nur vereinzelt Drag-Formate "und zwei oder drei Partys rund um die Pride im Juni", erzählt Patty. In den vergangenen Jahren habe sich das radikal geändert. "Die Veranstaltungen sind nur so aus dem Boden geschossen."

Bis dahin habe sich Drag vor allem in Clubs und auf Partys abgespielt, sagt Lexi. Das gebe es auch heute – mit einem Unterschied: "Damals waren Dragqueens das Zwischenprogramm, jetzt sind sie der Hauptact."

Pandemie als Katalysator

Beim Bingo erhält man mehrere Erklärungen für das wachsende Interesse: Die in den USA ab 2008 ausgestrahlte Reality-TV-Show RuPaul’s Drag Race habe sicher ihren Einfluss gehabt, in Österreich zudem Conchita Wursts Sieg beim Song Contest 2014 und insgesamt Corona: "In der Pandemie haben sich viele zu Hause aus Langeweile ausprobiert und das auf Social Media gepostet. Sie haben gesehen, dass das funktioniert – und weitergemacht", sagt Patty.

"Bei uns tauchen die Gäste in eine ganz andere Welt ein und können alle Sorgen vergessen. Das hören wir immer wieder", erzählt Sassica Rabbit.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Sassica und ihre Kolleginnen sehen den Boom sehr positiv: "Das bringt eine größere Diversität in die Szene." Viele Events seien ausgebucht. "Bei uns tauchen die Gäste in eine ganz andere Welt ein und können alle Sorgen vergessen. Das hören wir immer wieder", sagt Sassica. Dazu komme: "Wir sind ein Safe Space. Jeder ist bei uns akzeptiert, wie er ist."

Kulturkampf entbrannt

Doch zugleich ist ein regelrechter Kulturkampf um das Thema entbrannt. Auch er kommt aus den USA, wo seit Monaten Konservative Sturm laufen gegen Drag-Veranstaltungen in Museen und Bibliotheken. Im März hat Tennessee als erster Bundesstaat derartige Shows gesetzlich verboten, so diese auch für Kinder zugänglich sind. 13 weitere Bundesstaaten wollen nachziehen.

Box, Ring oder gar Bingo? Wer gewinnen will, muss trotz Liköreinflusses aufpassen.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Bill Lee, Tennessees Gouverneur, beschuldigte Dragqueens der Pornografie. Um Sex geht es bei diesen Veranstaltungen allerdings nicht. Drag meint Performances, bei denen auf oft überzogene Weise ein Geschlecht eingenommen und parodiert wird. Die Debatte über Drag-Shows ist eine weitere Facette eines breiten gesellschaftlichen Streits über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität.

Sie ist auch nach Österreich geschwappt: Im März beantragte die FPÖ eine Sondersitzung des Landtags. Es gelte auch in Wien, Kinder zu schützen und den "Transgenderwahnsinn" zu stoppen, argumentierten die Freiheitlichen. Im Vorfeld einer Drag-Lesung Mitte April rief die FPÖ zur Gegendemo auf.

Letzter Check: Neben dem Kettenkarussell geht es hoch zu Madame Tussauds – und zum Bingo.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Was die Dragqueens bei Madame Tussauds zu der Aufregung über die Lesungen ihrer Kolleginnen sagen? "Wir kommen auch zu Kindergeburtstagen", scherzt Sassica, Patty ergänzt: "Und wir lesen auch gerne etwas vor." Davor gibt es jetzt aber noch einen Likör. Bingo. (Anna Giulia Fink, Stefanie Rachbauer, 26.4.2023)