Johannes Stephan ist das, was man als Basis versteht. Seit 20 Jahren SPÖ-Mitglied, er weiß, "was es heißt, Sozialdemokrat zu sein".
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Im Glaskasten der SPÖ Ottakring lagern rote Schätze. Eine Arbeiter-Zeitung von 1911, abgewetzte Ausgaben von Das Kapital, Büsten von Viktor Adler, dem Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Und eine Sammlung von historischen 1.-Mai-Abzeichen, teilweise über 100 Jahre alt, eines für jedes Jahr. Die Wiener Maifeierlichkeiten sind fast so alt wie die SPÖ selbst; die erste fand 1890 im Prater statt. Der 1. Mai hat damit viele turbulente Phasen erlebt. Und turbulent, das ist es aktuell ja auch.

Am Vorabend des 1. Mai, dem "Sozi-Weihnachten", befindet sich die SPÖ in einer Selbstfindungsphase. Wieder einmal. Noch diesen Monat soll feststehen, wer die Partei in Zukunft führen soll. Und damit auch ein bisschen, wohin: mit Doskozil (leicht) nach rechts, mit Babler (ordentlich) nach links, mit Pamela Rendi-Wagner in dieselbe Richtung wie aktuell. 148.000 SPÖ-Mitglieder sind dazu aufgerufen, diese Entscheidung zu treffen, jedes Mitglied hat eine Stimme. Eine dieser Stimmen ist Johannes Stephan.

Foto: Helena Lea Manhartsberger

Wir sind Familie ...

Johannes ("Hannes") Stephan ist Pensionist und seit über 20 Jahren SPÖ-Mitglied. Der 66-Jährige hat eine bewegte Vita: hineingeboren in schwierigste Verhältnisse, aufgewachsen in einem katholischen Kinderheim. Kaufmännische Lehre, später über die Arbeit beim Roten Kreuz in Schwechat und die Volkshilfe in das rote Biotop gerutscht. Mitglied in zwei Sektionen (Sektion zwölf und Sektion zehn), Obmann des Vereins Volkshilfe Wien-Ottakring. Ein rotes Leben, wenn auch ein spätberufenes. "Ich hab keine Parteischule gemacht", sagt Stephan. "Aber ich weiß, was es heißt, Sozialdemokrat zu sein." Ein Sozialdemokrat müsse für ein solidarisches Leben für alle kämpfen: für gleiche Chancen auf ein erfülltes Leben für alle; für eine gesunde, vernünftige Kindheit für jedes Kind; für ein Gesundheits- und Pensionssystem, das allen zur Verfügung steht.

Man muss über SPÖler wie Hannes Stephan wissen, dass sie ihre Partei selbst weniger als Organisation erleben, sondern als Familie. Im Guten wie im Schlechten. Wo man sich gerade deshalb leidenschaftlich streiten kann, weil man weiß, dass man gemeinsame Gene hat. "Ich weiß schon, dass es in dieser Bewegung auch seltsame und schlechte Menschen gibt. Aber ich habe in noch keiner Organisation erlebt, dass der Begriff ‚Familie‘ so gelebt wurde wie bei uns", sagt er. Wie in jeder Familie seien alle versammelt: die böse und die großzügige Tante, die kluge Nichte, der faule Schwager. Trotzdem halte man dann letztlich zusammen. "Ich habe immer die Erfahrung gemacht, dass ich mit jedem, mit dem ich Querelen habe, reden kann, wenn es darauf ankommt." Ein bisschen leben Parteien von Menschen wie Hannes Stephan.

Der Ton, in dem in der Familie übereinander geredet wird, die Art, wie die Interna nach draußen dringen, tun ihm weh. Wie so ein Familienstreit eben wehtut. "Ich würde den einen oder anderen Genossen da gerne ein bisschen zurückholen." Er verstehe die Emotionen, sehe aber die Gefahr, dass man nicht mehr zueinanderfinden könne.

Hannes Stephan begutachtet den Schrein der Sozialdemokratie.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

"Eigentlich müsste man in jeder Rede betonen: Wer immer es nachher wird, wir geben uns die Hand und ziehen für dieses Land gemeinsam an einem Strang." Stephan ist in dem Sinne ein sehr traditioneller Sozialdemokrat, als ihm Einigkeit wichtig ist. Der Gedanke, dass es die Partei zerreißen, eine Linke neben der Sozialdemokratie entstehen könnte, das macht ihn unruhig. "Wir würden damit das verlieren, was uns noch immer stark macht: dass wir eine breite Bewegung sind, die trotz ihrer Vielfältigkeit gemeinsam auf Solidarität und ein vernünftiges soziales Miteinander schaut." Mit der Familie streitet man, aber man bricht nicht mit ihr.

Hannes Stephan würde nie ein schlechtes Wort über seine aktuelle Parteivorsitzende verlieren. Er habe mit "Frau Doktorin Rendi-Wagner" schon einige persönliche Gespräche geführt und ein gutes Verhältnis. Aber man merkt ihm an, dass ihm Richtung, in die sich die SPÖ aktuell bewegt, nicht behagt. "Die SPÖ hat viele ihrer inneren Werte dem Konsens der Mitte geopfert", sagt er. In der Asylpolitik beispielsweise und bei vielen Themen, die Solidarität betreffen. "Man hat gesehen, dass das für uns nicht funktioniert. Und wenn wir wollen, dass es wieder funktioniert, müssen wir unser Profil schärfen."

Hannes Stephan: "Ich habe immer die Erfahrung gemacht, dass ich mit jedem, mit dem ich Querelen habe, reden kann, wenn es darauf ankommt."
Foto: Helena Lea Manhartsberger

... feiern unsere Feste ...

Hannes Stephan, der viel lacht und einen guten Schmäh hat, kann aus dem Stegreif phänomenale Sätze von sich geben. "Ich wünsche mir eine Sozialdemokratie, die zwar um Mehrheiten kämpft, aber nicht auf Mehrheiten schielt", zum Beispiel. "Die in einer klaren, für alle verständlichen Sprache sagt: Das ist unser Programm, da wollen wir hin." Seine Präferenz ist deshalb Andreas Babler. Der sage genau, was er wolle. Damit kann Stephan etwas anfangen. "Es geht letztlich darum, dass wir eine Partei sein müssen, die wieder in die Gestaltung kommt", sagt er. Darin sieht er auch den Unterschied zu Parteien links der SPÖ, die wie die KPÖ plus in Salzburg lieber in die Opposition gehen. Dafür hat Stephan kein Verständnis. "Als Sozialdemokraten können, ja müssen wir gestalten wollen."

Der Mann, den auch der Wiener Bürgermeister "Hannes" nennt, ist überzeugter Langschläfer. Als er 2020 mit dem ersten Lockdown in Pension ging, freute er sich am meisten darauf, den Wecker abzustellen. Es gibt nur wenige Tage im Jahr, an denen er gerne aufsteht. Einer davon ist der 1. Mai. "Der 1. Mai ist das Familienfest, wo alle zusammenkommen", sagt er. "Wo man sich gegenseitig Nettes sagt und manchmal auch Nichtnettes." Die SPÖ Ottakring marschiert traditionell vom Parteilokal runter zum Rathausplatz. Später gibt es noch ein Fest für Familien auf dem Matteottiplatz. Dort komme man dann ins Gespräch und höre sich auch richtig zu, sagt Stephan.

Foto: Helena Lea Manhartsberger

... und streiten auch ganz gern

Die Frage, ob er schon einmal einen schlechten 1. Mai erlebt habe, verneint er. Den einen berühmten, den mit den Pfiffen gegen Werner Faymann, habe er "wahrscheinlich verdrängt". Er sei immer dafür, Familiendiskussionen im Hinterzimmer zu führen. Aber man komme oft gar nicht in die Hinterzimmer zu den Leuten, mit denen man es eigentlich ausdiskutieren möchte. Stephan, Pragmatiker und Sozialdemokrat alter Schule, findet bei weitem nicht alles gut in seiner Partei ("Die Gebührenerhöhungen im Gemeindebau hätte man anders kommunizieren können"), er kann aber in allen Situationen etwas Gutes finden. Sogar in der aktuellen. Ja, das Bild nach außen sei teilweise chaotisch. "Aber zumindest sieht man eine Partei in Bewegung." (Jonas Vogt, 1.5.2023)