In seinem Gastkommentar schreibt der Wirtschaftsforscher, Universitätslektor und Autor Stephan Schulmeister darüber, was die tatsächlichen Folgen von Zinserhöhungen sind und warum besonders junge Unternehmen und Familien darunter leiden.

Innerhalb eines Jahres haben die Notenbanken die Leitzinsen von null Prozent auf fast vier Prozent (Europäische Zentralbank, EZB) beziehungsweise fünf Prozent (U.S. Federal Reserve, Fed) erhöht. Als Folge müssen jetzt die meisten Unternehmen und Haushalte eine Verdoppelung ihrer Kreditkosten schlucken. Für einen Haus- oder Wohnungskredit kann das zusätzlich 500 Euro oder mehr pro Monat bedeuten. Das betrifft am meisten junge Familien mit Kindern – 36 Prozent von ihnen haben Schulden –, aber auch junge Unternehmen.

Die Notenbanken erklären solche Opfer für unabdingbar, weil man nur durch Zinssteigerungen eine hohe Inflation bekämpfen könne. Diese These ist grundfalsch: Eine Erhöhung von (Zins-)Kosten samt Umverteilung von Unternehmern und Haushalten zu den Banken bekämpft nicht die Teuerung, sondern die Realwirtschaft.

Mehr Hausverstand

Tief verankerte Irrtümer müssen mit (Haus-)Verstand in Angriff genommen werden. In Österreich sind Unternehmen mit etwa 400 Milliarden Euro und Haushalte mit 200 Milliarden Euro verschuldet, die Zinszahlungen lagen vor der Zinserhöhung bei circa sechs beziehungsweise vier Milliarden Euro. Diese haben sich durch die Zinspolitik verdoppelt auf 20 Milliarden Euro. "Akzeleratoreffekt" nennt man das. Er bedeutet: Steigen die Zinsen von zwei auf vier Prozent, so steigen die Zinszahlungen um 100 Prozent (die meisten Kredite werden zu flexiblen Zinsen vergeben).

Die zusätzlichen Kosten belasten genau jene Unternehmen, die viel investieren und/oder als Start-ups einen hohen Kreditbedarf haben. Die zusätzliche Zinsbelastung der Haushalte trifft am stärksten jüngere Familien mit Wohnungskrediten. Sie werden daher ihren Konsum einschränken müssen so wie die Unternehmen ihre Investitionen.

Als Folge der Erhöhung des Leitzinses müssen die meisten Unternehmen und Haushalte eine Verdoppelung ihrer Kreditkosten schlucken. Für einen Haus- oder Wohnungskredit kann das zusätzlich 500 Euro oder mehr pro Monat bedeuten.
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Die Teuerung begann mit höheren Energiepreisen und wuchs sich zu einer Gewinninflation aus, insbesondere durch Preiserhöhungen großer Konzerne – das erklärten kürzlich der Chefökonom der EZB ebenso wie das Wall Street Journal. Eine solche Inflation durch höhere Kosten zu bekämpfen samt Umverteilung von (jungen) Unternehmen und Haushalten zu den Banken ist verrückt.

Weiters ist zu bedenken: Die Zinserhöhung senkt spezifisch das Angebot an Wohnraum, und so steigen die Mieten weiter. Generell dämpft die jüngste Erfahrung die Realwirtschaft: Durch höhere Preise kann man den Gewinn viel leichter steigern als durch mehr Produktion, besonders bei unverzichtbaren Gütern wie Energie, Nahrungsmitteln oder Wohnen.

Und wer kassiert eigentlich die zehn Milliarden Euro zusätzlicher Zinszahlungen? Nicht die Sparerinnen und Sparer, sondern die Banken. Dafür gibt es einen grotesken Grund: Die Zinspolitik hat die (Staats-)Anleihen entwertet und damit die wichtigsten Aktiva der Banken. Dies erhöht deren Krisenanfälligkeit, also behalten die Banken einen Großteil der höheren Zinszahlungen ihrer Schuldnerinnen und Schuldner ein.

Zwei "Denkkollektive"

Sollten die Immobilienpreise (weiter) sinken und auch den Aktienkursen die Luft ausgehen, dann stehen die Chancen für eine neue Finanzkrise gut: Diese war nämlich schon 2008 durch den gleichzeitigen Verfall von Immobilienpreisen sowie der Aktien- und Anleihekurse verursacht worden samt der dadurch bewirkten Entwertung der Bankaktiva. Ihnen gingen massive Zinssteigerungen voraus, etwa in gleichem Ausmaß wie seit einem Jahr. Diese systemische Ursache der Finanzkrise wird bis heute verdrängt, weil – wie es in Christian Morgensterns Palmström-Gedichten heißt – "nichts sein kann, was nicht sein darf".

Um zu begreifen, warum sich ein Fundamentalirrtum in den Köpfen festsetzen kann, hilft die Lehre von den "Denkkollektiven" des großen Wissenschaftssoziologen Ludwik Fleck. "Denkkollektive" werden durch "die Beharrungstendenzen der Meinungssysteme und die Harmonie der Täuschungen" geprägt. Im Falle des Irrtums der Zinspolitik ist die Sache noch komplexer. Seit 1945 haben sich ja zwei "Denkkollektive" bekriegt: Zuerst hatten die Lehrbuch-Keynesianer die Oberhand, nach Ende der 1970er-Jahre die Monetaristen (Gleichgewichtstheoretiker). Nur in einem Punkt sagen beide Schulen das Gleiche: Inflation muss durch höhere Zinsen bekämpft werden – dann muss das einfach wahr sein!

Allerdings: Der Ökonom Keynes selbst hatte dazu eine ganz andere Position als jene "Keynesianer", die seine Theorie zur Unkenntlichkeit vereinfachten: Langfristig müssten die Zinsen gegen null sinken, um die Stagnationstendenzen des Kapitalismus zu mildern. Wegen der "Akzeleratoreffekte" bei niedrigen Zinsen soll die Politik die Zinsen in Ruhe lassen. Konjunkturschwankungen sind durch die Änderung von Staatsausgaben und Staatseinnahmen zu stabilisieren. Das würde aber kaum nötig sein, wenn die Finanzmärkte strikt reguliert würden. Nur so könne den "money makers" das Handwerk gelegt werden, ihre Spekulationen waren und sind die Hauptursachen großer Krisen.

Bis Anfang der 1970er-Jahre folgte die Politik den Empfehlungen des großen Liberalen. Seither haben die Schwankungen von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Zinssätzen und Aktienkursen auf wieder "befreiten" Finanzmärkten unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft erschwert und das Profitstreben auf Spekulation aller Art gelenkt. Gleichzeitig hat eine Politik nach dem Motto "Mehr privat, weniger Staat" den sozialen Zusammenhalt und die natürliche Umwelt beschädigt. Am Ende des langen Weges in die gegenwärtige Krise rüsten sich "Volkskanzler" – FPÖ-Chef Herbert Kickl meint damit sich selbst als freiheitlichen Bundeskanzler – für den Dienst an der Volksgemeinschaft. (Stephan Schulmeister, 8.5.2023)