Lindemann Rammstein Vorwürfe Missbrauch Metal Rockmusik Groupie
Till Lindemann werden sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Fans sollen ihm systematisch zugeführt worden sein.
imago images/ITAR-TASS

Es ist in der langen Reihe von Skandalen, die die deutsche Metalband Rammstein überlebt hat, der wohl bisher schwerwiegendste: In den sozialen Netzen und dann auch gegenüber Medien wie der Süddeutschen Zeitung berichteten mehrere junge Frauen von einem ausgefeilten Rekrutierungssystem, bei dem weibliche Fans bei Konzerten nicht nur für die Reihe null ("Row Zero") und Backstagepartys mit der Band, sondern auch für sexuelle Begegnungen mit Sänger Till Lindemann "gecastet" worden seien. Dabei soll es auch zu sexuellen Übergriffen und Gewalterfahrungen gekommen sein.

Die Band und ihr Management – für alle gilt die Unschuldsvermutung – wiesen zunächst alle Vorwürfe pauschal von sich, am Samstag folgte nun ein zweites Statement: "Die Vorwürfe haben uns alle sehr getroffen, und wir nehmen sie außerordentlich ernst. Unseren Fans sagen wir: Es ist uns wichtig, dass ihr euch bei unseren Shows wohl und sicher fühlt – vor und hinter der Bühne. Wir verurteilen jede Art von Übergriffigkeit und bitten euch: Beteiligt euch nicht an öffentlichen Vorverurteilungen jeglicher Art denen gegenüber, die Anschuldigungen erhoben haben. Sie haben ein Recht auf ihre Sicht der Dinge. Wir, die Band, haben aber auch ein Recht – nämlich ebenfalls nicht vorverurteilt zu werden."

Die Soziologin Nadia Shehadeh erklärt, warum gerade dort, wo ein großes Machtgefälle zwischen Fans und Angebeteten herrscht, Missbrauch Tür und Tor geöffnet wird.

STANDARD: Ist das, was gerade als System Rammstein beschrieben wird, nicht seit jeher Bestandteil des Rockmusikbusiness? Stars, die ihre Machtposition ausnützen, um reihenweise Groupies gefügig zu machen?

Shehadeh: Wenn bekannte Musiker sich mit Fans und Bewunderinnen einlassen, geschieht das nicht in einem luftleeren Raum. Hier kann das Machtgefälle natürlich die Interaktionen beeinflussen. Dabei kann nie ausgeschlossen werden, dass es auch missbräuchliche Verhaltensweisen gibt. Im Fall Rammstein kommt hinzu, dass über systematische und gezielte Rekrutierungsprozesse von sehr jungen Frauen für die "Row Zero" berichtet wird. Man macht so, wie die Sängerin Nora Bendzko es zusammenfasst, "ein potenziell missbräuchliches, Fans einbindendes System und verkauft es als 'rockstar goals'". Das heißt, wenn jungen Frauen etwas Negatives passiert, fällt es der Öffentlichkeit natürlich leicht, Victim-Blaming zu betreiben. Dass Menschen denken, dass sie wüssten, was sich in der Groupie-Grauzone abspielt, macht es nämlich auch leicht, die Schuld bei Opfern zu suchen. Und dass außerdem viele glauben, es gehöre zur Interaktion mit Rockstars dazu, sich auf nichtkonsensuelle Handlungen einzulassen, ist eigentlich erschreckend.

STANDARD: Opfer sind niemals selbst schuld. Aber zeugt es nicht doch auch von Leichtsinn, sich an Drogenpartys mit Rockstars zu beteiligen, denen ein gewisser Ruf vorauseilt?

Shehadeh: Nein. Zumal ja gerade dann, wenn, wie im Fall Lindemann, ständig an der Legende gebastelt wird, der Musiker sei eigentlich ganz sanftmütig und ein Gentleman. Bands profitieren von ihren Fans – im Falle Rammsteins nicht nur finanziell, sondern auch imagetechnisch, wenn man sich schöne junge Frauen in die erste Reihe stellt. Fans investieren im wahrsten Sinne des Wortes in ihre Idole und bauen auch manchmal eine parasoziale Beziehung zu den Musiker:innen auf. Dass es schwerfällt, sich vorzustellen, dass junge Menschen auf Konzerten in der ersten Reihe nicht sexualisierte Begegnungen, sondern eine gute Zeit erwarten, sollte zu denken geben. Dass man bei Meet-and-Greets seine Vorbilder kennenlernen möchte und nicht davon ausgeht, als Verlustierobjekt ausgenutzt zu werden, sollte etwas ganz Normales sein. Dass wir davon anscheinend weit entfernt sind, weil viele denken, dass so etwas wie sexuelle Edginess inklusive Unfreiwilligkeit einfach zum Rockstargehabe dazugehört, zeigt, wo wir stehen. Nämlich immer noch an der komplett falschen Stelle.

STANDARD: Rock 'n' Roll und Groupiekultur wurden einst als Befreiung von der bürgerlichen Sexualmoral gefeiert. Fällt dieser Mythos in den letzten Jahren immer mehr in sich zusammen?

Shehadeh: Eine Befreiung von der bürgerlichen Sexualmoral sehe ich dort, wo einflussreiche Männer ihren Heterosexismus ausleben, nicht. Und wenn sich backstage Missbrauch abspielt, dann hat das auch nichts mehr mit Befreiung zu tun, sondern nur mit der Reproduktion von patriarchalen Gewaltstrukturen.

STANDARD: Bei Rammstein gibt es auch viele Frauen, die öffentlich sagen, sie hätten bei diesen Partys nur Gutes erlebt. Was bleibt, wenn Vorwürfe nicht beweisbar sind?

Shehadeh: Natürlich wird es Fans geben, die eine gute Zeit auf Partys haben. Wenn aber, wie in diesem Fall, unabhängig voneinander mehrere Frauen berichten, dass ihnen fragwürdige und zum Teil schlimme Dinge in diesen Settings passiert sind, dann sollte man das ernst nehmen. Wenn man vor allem junge Frauen systematisch in das Geschehen vor, während und nach Livekonzerten einbindet, dann kann man sich ja auch fragen, was das Bandumfeld tut, um systematisch auch für die Sicherheit der Fans zu sorgen. Man kann sich auch Fragen stellen, die nicht strafrechtlich relevant sind. Ich habe einen Bericht gelesen, in dem junge Frauen erzählten, dass sie sich ungut gefühlt haben, ihre Handys abzugeben. Ihre Akkus seien leer gewesen, sie hätten Sorge gehabt, ihre Freundinnen nach dem Feiern nicht mehr zu erreichen, und sie hätten sich nicht getraut, zu fragen, ob sie ihre Telefone aufladen dürfen.

STANDARD: Also bereits die Existenz eines solchen Rekrutierungssystems ist problematisch, unabhängig davon, ob dort Missbrauch geschieht?

Shehadeh: Ja. Ich finde, eine so erfolgreiche Band mit einem großen Team um sich herum kann sich schon auch Fragen gefallen lassen, ob man sich überhaupt Gedanken um die Sicherheit der jungen Fans macht. Wenn man systematisch für die exklusiven Bereiche castet und dort auch großzügig Alkohol bereitstellt, kann man sich ja auch einfache Fragen stellen wie: "Kommen unsere weiblichen Fans nach so einem Gelage auch sicher wieder nach Hause?"

STANDARD: Nun spielen Gewalt, Perversion und Missbrauch immer schon eine große Rolle in den Texten Lindemanns. Das wirft die ewige Frage auf, wie sehr Kunst und Künstler zu trennen sind. Ist das Rockgenre ein Nährboden?

Shehadeh: Egal ob Rockmusik, Rap, Film oder Kunst: Problematische Inhalte wurden immer schon als Kunst verkauft, obwohl sie mitnichten immer subversiv sind. Selbst da, wo nicht mal ein ironischer Bruch vorhanden ist, gehen viele Rezipient:innen und auch die Künstler:innen davon aus, dass das, was sie machen, irgendwie progressiv ist. Deswegen gibt es leider immer noch viele Nährböden. Aber die Unterhaltungsindustrie ist ja auch kein aufklärerisches Aktivismusgenre.

STANDARD: In sozialen Medien gehen die jeweiligen Lager aufeinander los. Ist die ungefilterte Öffentlichkeit im Netz mehr Fluch oder Segen?

Shehadeh: Vielen Menschen ist bis heute einerseits nicht klar, dass Missbrauch ein Spektrum ist, das nicht nur Vergewaltigungen, sondern auch andere Formen von Gewalt beinhaltet. Außerdem wird, wenn wie in diesem Fall Frauen bestehende Systeme kritisieren und von eigenen Erlebnissen berichten, der bestehende Status quo angegriffen. Es geht dann nicht mehr darum, herauszufinden, was passiert ist, sondern darum, das System, das man gewohnt ist, weiter zu erhalten.

STANDARD: Sie haben eine Initiative gegründet, die gegen Missbrauch im Musikbusiness ankämpft. Was kann man präventiv tun?

Shehadeh: Wir haben im Sommer 2019 eine "Female Festival Task Force" gegründet und verschiedene Festivals und Konzerte besucht, um zu schauen, wie sicher man sich als Frau auf verschiedenen Events fühlt – und was für die Sicherheit getan wird. Der erste Schritt, präventiv aktiv zu werden, ist sehr einfach: den Fans zuhören. Und negative Berichte ernst nehmen. Denn eines sollte ja auch klar sein: ohne Fanbase kein Musikererfolg. (Stefan Weiss, 5.6.2023)