Soll russischen Künstlerinnen und Künstlern im Westen eine Bühne geboten werden? Yuriy Gorodnichenko, Professor für Volkswirtschaft in Berkeley, und Ilona Sologoub, Herausgeberin der Plattform Vox Ukraine, sprechen sich in ihrem Gastkommentar klar dagegen aus.

Moskau Schauspielerinnen und Schauspieler Puschkin-Denkmal
Schauspielerinnen und Schauspieler stellen in Moskau ein Stück des Schriftstellers Anton Tschechow nach. Im Hintergrund ein Denkmal des Poeten Alexander Puschkin.
Foto: AP / Alexander Zemlianichenko

Als Russland im Februar 2022 seine groß angelegte Invasion der Ukraine startete, erwartete kaum jemand, dass der Widerstand länger als ein paar Tage dauern würde. Doch während westliche Regierungen glaubten, dass die Ukraine Russland militärisch nicht gewachsen sei, beruhte die Erwartung des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf einen schnellen Sieg Russlands auf einer grundlegenderen Annahme: Dass die Ukrainerinnen und Ukrainer kaum willens seien, Widerstand zu leisten, weil sie nie wirklich existiert hätten. In Putins Augen waren Geschichte und Identität der Ukraine derart mit Russland verknüpft, dass ihre Bevölkerung keinen Grund hätte, um der Souveränität willen ihr Leben und Eigentum zu riskieren.

In dieser imperialen Fehlkalkulation wurzelt der Krieg. Die Stärke des ukrainischen Widerstands war weniger von der von den Nato-Mitgliedern geleisteten Unterstützung abhängig als vom festen Willen des ukrainischen Volkes, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen, dass es bei diesem Kampf um ihr nationales Überleben geht und dass eine kulturelle Dekolonialisierung dafür unverzichtbar ist.

Denkmäler Ukraine Kiew Russland
In Kiew werden russische Denkmäler seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine als unerträglich betrachtet und abgebaut.
Foto: Reuters / Gleb Garanich

Dies hat im Westen, wo die mangelnde Bereitschaft der Ukrainerinnen und Ukrainer, die Bühne mit Russinnen und Russen zu teilen, noch immer Stirnrunzeln hervorruft, eine Menge Händeringen verursacht. Im Mai beispielsweise trat die russisch-amerikanische Schriftstellerin Masha Gessen in Reaktion auf die Absage einer Podiumsdiskussion von PEN America, die sie gemeinsam mit zwei russischen Schriftstellern moderieren sollte, aus dem Vorstand der Organisation zurück. Zwei ukrainische Schriftsteller – beide aktive Soldaten – hatten sich geweigert, an einer Veranstaltung teilzunehmen, bei der auch Russinnen und Russen dabei seien; daraufhin wurden die Russinnen und Russen ausgeladen.

Während einige "den Impuls, alle Russinnen und Russen zu zensieren", beklagten, war Gessens Reaktion auf diese Episode verständnisvoll gegenüber den Ukrainerinnen und Ukrainern und nuanciert in der Begründung ihres Rücktritts. Gessen erkannte an, dass die "Ukrainerinnen und Ukrainer ständig mit russischer Dominanz in den kulturellen Sphären und der Wissenschaft konfrontiert" seien. Gessens Anliegen waren die "menschlichen Opfer": die Kuratorinnen und Kuratoren, Musikerinnen und Musiker, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, deren Arbeit Gefahr laufe, "ausgelöscht" zu werden.

Russische Soft Power

Das Problem, vor dem westliche Kulturforen stehen, ist nicht bloß, dass dutzende Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Schauspielerinnen und Schauspieler, Sängerinnen und Sänger, Produzentinnen und Produzenten offene Briefe unterzeichneten, die die Annexion der Krim 2014 und die Invasion 2022 befürworteten, wobei einige sogar mit ihrer aktiven Rolle bei der Tötung von Ukrainerinnen und Ukrainern prahlten. Das Problem ist die Rolle russischer Kulturträger jeder Couleur bei der Förderung russischer Soft Power. 

"Die russische Kultur ist in ihrem gegenwärtigen Zustand rein ornamentaler Art."

Die Kultur sollte der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, deren Fehler ebenso wie ihre Leistungen herausstellen und Möglichkeiten für schrittweise Veränderungen aufzeigen. Die russische Kultur jedoch ist in ihrem gegenwärtigen Zustand rein ornamentaler Art; ihr Zweck besteht darin, die Geschichte zu beschönigen und Gewalt zu weihen (die Russisch-Orthodoxe Kirche hat den Krieg sogar ausdrücklich gesegnet). Anders als die englische oder französische Kultur hat die russische Kultur es sogar versäumt, den russischen Imperialismus anzuerkennen, geschweige denn darüber nachzudenken. Das muss sich ändern, wenn es je einen dauerhaften und gerechten Frieden zwischen Russland und seinen früheren Kolonien geben soll.

Auch Kultur finanziert den Krieg

Doch gibt es noch einen unmittelbareren Grund für eine Pause: Die russische Kultur zu unterstützen heißt heute, den Krieg mitzufinanzieren. Sich einen russischen Spielfilm anzusehen, russische Musik zu hören oder ein russisches Theaterstück zu besuchen verschafft Putins Regierung Tantiemen und Steuereinnahmen.

"Warum sollte sich dann die Raiffeisen Bank schämen?"

Zudem wird die Wirtschaft, wenn russische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Regisseurinnen und Regisseure, Musikerinnen und Musiker bei Kulturforen willkommen sind, annehmen, dass es akzeptabel ist, in Russland zu bleiben (und dort weiter Steuern zu zahlen). Wenn die Sopranistin Anna Netrebko 2014 offen die Terroristen im Donbass unterstützen und weiterhin in der Philharmonie de Paris oder im Teatro alla Scala singen konnte, warum sollte sich dann die Raiffeisen Bank dafür schämen, dass sie 2022 zwei Milliarden Euro Gewinn in Russland gemacht hat?

Raiffeisen International Moskau
Raiffeisen-Logo in Moskau. Die Bank arbeitet an einem "Spin-off" der Russland-Tochter.
Foto: APA / AFP / Alexander Nemenov

Die vom Kreml propagierte Vorstellung, dass Kultur über die Politik hinausreicht, ist von der Realität so weit entfernt wie das russische Fernsehen von der Wahrheit. Die russische Kultur war schon immer Teil des hybriden Kriegs Putins gegen die Ukraine und den Westen. Das ist der Grund, warum die russische Regierung Milliardensummen in Projekte wie die Stiftung Russkiy Mir investiert hat, die Putin 2007 gründete, um die Idee der "russischen Welt" zu propagieren – ein Konstrukt, das alle Russischsprechenden einschließt, ob sie nun russische Bürgerinnen und Bürger sind oder nicht.

Instrument der Unterdrückung

Tatsächlich werden die russische Sprache und Kultur schon seit langem als Instrument genutzt, um kleinere Nationen und ethnische Minderheiten unter anderem in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu unterdrücken. Statuen von Alexander Puschkin wurden von Lwiw bis Bischkek errichtet. Und wie jedes Großreich hat Russland zudem die Leistungen der Talente der unterworfenen Nationen für sich vereinnahmt. Viele westliche Kultureinrichtungen ordnen heute ukrainische, georgische und andere Künstlerinnen und Künstler, die lange als "russisch" beschrieben wurden, neu ein. Indem sie derartige kulturelle Manifestationen des russischen Imperialismus erkennen und verwerfen, können die vielen Kleinode entdeckt werden, die postkoloniale Räume zu bieten haben.

Trotzdem könnte man darauf beharren, dass "liberale" russische Künstlerinnen und Künstler es verdienen, Gehör zu finden. Leider kann selbst diese eng begrenzte Gruppe ziemlich peinlich sein. Einige exkulpieren Putins Gefolgsleute und stellen die Russinnen und Russen – darunter russische Soldaten, die Ukrainer und Ukrainerinnen töten, vergewaltigen und ausplündern – als Opfer dar. Andere bezeichnen die Ukrainerinnen und Ukrainer im Einklang mit der Kreml-Propaganda als Nazis oder drohen dem Westen. Und wieder andere versuchen die Welt davon zu überzeugen, dass, wenn Putin erst einmal weg ist, ein ganz anderes Russland entstehen wird.

"'Gute Russinnen und Russen' haben noch eine Menge Arbeit vor sich."

Darauf sollte man nicht wetten. Womöglich wird aus Russland eines Tages tatsächlich eine echte Demokratie, in der imperialistische Aggression undenkbar ist. Im Moment jedoch sieht die Realität anders aus: Putin ist ein Produkt der russischen Gesellschaft. Der Kultur, die diese Gesellschaft geformt hat, in New York oder Cannes eine Bühne zu bieten, wird an den bestehenden Gegebenheiten nichts ändern.

Gessen zitiert eine Ukrainerin, die im Gespräch mit ihr geäußert habe: "Die in Wahrheit guten Russinnen und Russen sind die, die nicht versuchen, mit mir zu reden." Die "ihre Nasen nicht in unsere ukrainischen Angelegenheiten stecken und sich nur um Russland kümmern". In einer Gesellschaft, die unfähig scheint, zu verstehen, dass das Töten von Zivilisten, die Vergewaltigung von Frauen und Mädchen, die Verschleppung von Kindern und die Zerstörung von Wohnhäusern falsch ist, haben "in Wahrheit gute Russinnen und Russen" noch eine Menge Arbeit vor sich. Sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren – was zu einer echten Revolution in der russischen Kultur führen könnte –, wäre produktiver, als einem internationalen Publikum etwas vorzupredigen. (Yuriy Gorodnichenko, Ilona Sologoub, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 16.6.2023)