Nach dem Schiffsunglück im Mittelmeer mit mehreren Hundert ertrunkenen Flüchtlingen aus Afrika läuft jetzt die Suche nach den (Mit-)Schuldigen. Und die Küstenwache gerät dabei immer mehr unter Druck. Sie behauptete bisher, dass sich das Schiff auf Kurs Richtung Italien befunden – auch in den kritischen Stunden vor dem Untergang – und daher keine Hilfe gebraucht habe. Die BBC hat jedoch die Trackingdaten anderer Schiffe in dieser Region ausgewertet. Die Recherchen legen nahe, dass sich das spätere Unglücksschiff in den letzten sieben Stunden vor dem Unglück kaum mehr von der Stelle bewegt habe und damit bereits längere Zeit Probleme hatte.

Am Mittwoch war der mit 500 bis 700 Migranten völlig überfüllte Fischkutter auf dem Weg von Afrika nach Europa gesunken. 78 Menschen wurden tot geborgen, 104 gerettet. Die anderen Passagiere befanden sich der Küstenwache zufolge unter Deck und wurden mit dem Boot in die Tiefe gerissen. Hoffnung, jetzt noch Überlebende zu finden, gibt es nicht mehr.

Nahrungsmittel und Wasser vorbeigebracht

Die BBC-Recherchen beziehen sich auf Daten der Analyseplattform Marinetraffic, die Bewegungen von Schiffen nachverfolgt. Mit einzelnen Ausnahmen: So hatte das verunglückte Fischerboot keinen Peilsender und tauchte daher nicht auf der Karte auf. Schiffe der Küstenwache und des Militärs müssen zudem ihren Standort nicht mitteilen. Dafür gab es andere Daten:

Die EU-Grenzbehörde Frontex habe das Schiff erstmals am Dienstag gegen 10 Uhr entdeckt und die griechischen Behörden informiert. Die Organisation Alarm Phone hat um 14.17 Uhr einen Anruf erhalten, wonach das Boot in Not sei. Um 17 Uhr habe das Boot Lucky Sailor dem Migrantenboot Nahrungsmittel und Wasser gebracht. Der Kapitän bestätigte der BBC, dass die Küstenwache ihn darum gebeten habe.

Das spätere Unglücksboot.
Das spätere Unglücksboot.
REUTERS/HELLENIC COAST GUARD

Kurz darauf habe auch ein Helikopter der Küstenwache das Migrantenboot gefunden. Behörden gaben weiterhin an, dass sich das Schiff zu diesem Zeitpunkt nicht in Gefahr befunden habe. Um 20 Uhr habe aber ein weiteres Schiff, der Faithful Warrior, Proviant vorbeigebracht. Auch in den Stunden danach, zwischen 21.40 und 00.40 Uhr, habe das Migrantenschiff eine gleichmäßige Geschwindigkeit eingehalten, hieß es ursprünglich von den Behörden. Laut BBC konzentrierten sich alle zuvor genannten Aktionen jedoch auf eine bestimmte Stelle im Meer. Das Migrantenschiff habe sich also kaum von der Stelle bewegt.

Küstenwache: Hilfe abgelehnt

Die Küstenwache hat sich zu den BBC-Recherchen bisher nicht geäußert. Sie setzte sich aber bereits zuvor gegen Vorwürfe zur Wehr, bei ihrem Einsatz am Mittwoch den Tod der bis zu 700 Menschen an Bord des Schiffes in Kauf genommen zu haben.

Am Sonntag veröffentlichte die griechische Zeitung "Kathimerini" das Protokoll eines Berichts, den der Kommandant des Patrouillenboots 920 seinen Vorgesetzten gegeben habe. Diesem zufolge bot der Kapitän dem völlig überfüllten Fischkutter etwa zwei Stunden vor dem Unglück Hilfe an – was von dort aber abgelehnt worden sei. "Wir näherten uns dem Schiff, um seinen Zustand und den der Passagiere zu überprüfen und erneut Hilfe anzubieten", zitierte die Zeitung den Kapitän, dessen Name nicht veröffentlicht wurde. Dann hätten die Beamten am Bug des Schiffs ein Seil befestigt. Von Bord seien jedoch Rufe wie "No Help" und "Go Italy" zu hören gewesen – man brauche keine Hilfe, Ziel sei Italien. "Trotz wiederholter Fragen, ob sie Hilfe brauchten, ignorierten sie uns und machten gegen 23.57 Uhr das Seil los. Sie starteten den Motor und fuhren mit geringer Geschwindigkeit in westliche Richtung."

Das Patrouillenboot habe das Boot dann im Abstand von 200 Metern begleitet, gab der Kapitän an. Später habe der Kutter erneut angehalten. Dann habe sich das Boot langsam geneigt. Unter den Passagieren habe es Aufruhr gegeben, auch Schreie seien zu hören gewesen. Innerhalb einer Minute sei das Boot dann jedoch gekentert. Das Mittelmeer ist an dieser Stelle etwa 5.000 Meter tief.

Neun Verdächtige vor Gericht

Die Katastrophe vor Griechenlands Küste löste international Entsetzen aus. Papst Franziskus sagte am Sonntag in Rom, mit "großer Trauer und viel Schmerz" habe er davon erfahren. Er mahnte, "alles Mögliche zu tun, damit solche Tragödien sich nicht wiederholen". Gemeinsam mit der italienischen Polizei und der europäischen Polizeibehörde Europol wollen die Griechen nun die Drahtzieher der Schleuserbande ermitteln. Nach dem Unglück wurden neun Ägypter zwischen 20 und 40 Jahren festgenommen, die zu den Überlebenden gehören. Sie müssen am Montag vor Gericht erscheinen, berichtet der "Guardian".

Die Bande soll in den vergangenen Monaten bis zu 18 Fahrten übers Mittelmeer aus Libyen nach Italien organisiert haben. Einer der Männer habe zugegeben, Geld dafür erhalten zu haben, um während der Reise Arbeiten am Schiff vorzunehmen, berichteten griechische Medien. Die anderen Männer sollen bisher alle Vorwürfe abstreiten. Von vielen Seiten gab es Vorwürfe, dass die Küstenwache nach Entdeckung des Kutters nicht eingeschritten sei. Einige Medien zitierten Überlebende, die Küstenwache habe den Untergang sogar erst verursacht, indem sie das Boot Richtung Italien habe schleppen wollen. (Andreas Gstaltmeyr, APA, 19.6.2023)