Vieles deutet darauf hin, dass die griechische Küstenwache den hunderten Migranten, die sich vergangene Woche auf einem Fischerboot vor der griechischen Küste befanden, stundenlang nicht die angemessene Hilfe zukommen ließ. Und das, obwohl offensichtlich war, dass das Boot havarierte, und obwohl das internationale Recht die Behörden dazu verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten. Hunderte Menschen ertranken in der Folge in den tiefen Gewässern.

Sicher ist, dass die Küstenwache wusste, dass es Probleme gab, weil sie andere Schiffe aufforderte, Hilfe zu leisten. Aber offenbar wollte man lieber daran glauben, dass sich das Boot in Richtung italienischer Gewässer bewegte und man die Zuständigkeit verlieren würde, als einen lebensrettenden Einsatz einzuleiten. Viele Fragen bleiben offen, und die Behörden schulden der Öffentlichkeit Beweise wie etwa Videoaufnahmen.

Wahlkampf in Griechenland: Kyriakos Mitsotakis, Chef der bisher regierenden Nea Dimokratia, attackiert die Menschenhändler. Die Küstenwache verteidigt er.
Reuters/Louiza Vradi

Das jüngste Vorgehen der Küstenwache passt zu der Abschottungspolitik, die die griechische Regierung seit Jahren betreibt. Jene Behörden, die nun zu spät eingriffen, sind dieselben, die seit Jahren Boote mit Geflüchteten, die aus der Türkei kommen, abdrängen und zur Rückkehr in die türkischen Gewässer zwingen. Es ist dieselbe Regierung, die maskierte Beamte losschickt, um Migranten, die sich bereits auf griechischen Inseln befinden, wieder auf Schiffe zu schleppen und im offenen Meer auf Rettungsinseln auszusetzen.

Dieses Vorgehen ist aber nicht nur ein Bruch vieler Gesetze und internationaler Regelungen, sondern ein Bruch mit der Zivilisation. Denn mit dieser Politik riskiert man den Tod von schutzbedürftigen Menschen.

Der Chef der bisher regierenden Nea Dimokratia, Kyriakos Mitsotakis, der mitten im Wahlkampf vor dem Urnengang am 25. Juni steckt, versuchte nun, die gesamte Verantwortung auf die Menschenhändler abzuwälzen. Er bezeichnete sie als "menschlichen Abschaum" und meinte, es sei unfair zu behaupten, die Küstenwache habe ihre Arbeit nicht getan. "Diese Leute sind da draußen und kämpfen gegen die Wellen", erklärte der Mann, der die vergangenen vier Jahre Griechenland regierte.

Offenbar weigert sich Mitsotakis, die berechtigte Kritik an den Behörden auch nur aufzugreifen und für eine transparente Aufklärung der Tragödie zu sorgen. Seine Ablenkungsmanöver wirken nervös, sie zeugen aber auch von einem Mangel an Ernsthaftigkeit und Humanismus. Denn nicht nur die Menschenhändler sind zynisch. Wenn die griechischen Behörden grob fahrlässig die Gefährdung von Menschen in Kauf nehmen, so setzen auch sie die Entrechtung dieser Menschen fort.

Mitsotakis, der vor einer weiteren vierjährigen Amtszeit steht, griff auch die oppositionelle Syriza an, die das Vorgehen der Behörden kritisiert hatte. Alles deutet darauf hin, dass er seine restriktive Politik fortsetzen wird. Umso wichtiger wird es sein, dass die Opposition vollständige Aufklärung und Rechenschaftspflicht im Fall des Bootsunglücks einfordert, damit die Hilfe das nächste Mal auch wirklich rechtzeitig kommt. (Adelheid Wölfl, 19.6.2023)