Der EU-Gipfel vom 29. Juni 2023 könnte sich als weit in die Zukunft weisender Wendepunkt in der Sicherheitspolitik der Union erweisen. Was die Regierungschefs zur Unterstützung der Ukraine festlegten, geht prinzipiell über das hinaus, was sie im russischen Eroberungskrieg bisher an Aktionen setzten. Plötzlich ist nicht mehr (nur) von konkreten Finanzhilfen oder von Waffenlieferungen die Rede.

In den Schlusserklärungen des Gipfels taucht das Wort "Zusagen" bzw. "Verpflichtungen" der EU und ihrer Partner für die künftige Sicherheit der Ukraine auf – im englischen Verhandlungswort "commitment". Das ist weniger als die Beistandspflicht der EU-Mitglieder gemäß den EU-Verträgen untereinander.

Die Rolle der Neutralen müsse berücksichtigt werden, verlangt Kanzler Karl Nehammer.
EPA/Olivier Matthys

Es entspricht auch nicht dem Beistandspakt der Nato-Mitglieder, von denen immerhin 22 der EU angehören (bald auch Schweden). Aber: Diese europäische "Zusage", einer freien, souveränen Ukraine im Krieg mit (fast) allen Mitteln beizustehen, bringt eine neue Qualität der Militärpolitik in Europa.

Wer einem Drittstaat in der Nachbarschaft Sicherheit zusagt, der wird diese Verpflichtung nicht mehr so einfach los, auch wenn der Krieg noch härter wird. Die Regierungschefs mögen an Formulierungen noch herumfeilen, rhetorisch abschwächen, Bedenken der kleinen neutralen EU-Staaten berücksichtigen.

Allein die Erklärung, die Ukraine niemals an den Aggressor Russland aufzugeben, ändert alles. Kein Wunder, wenn Vertreter aus Österreich, Zypern, Malta und Irland deswegen beinahe hysterisch reagierten.

"Nicht mit uns!", erklärte Bundeskanzler Karl Nehammer, der sich von allen Beteiligten am weitesten vorwagte. Es könne nicht sein, dass die Neutralen über Umwege in eine verpflichtende Militärunion gezwungen werden, der sie nie ihre Zustimmung gaben. Nehammer forderte das explizite Festschreiben, dass Österreich weiter selbst entscheiden könne, ob es mitmache oder nicht.

Die Nervosität, die aus Kanzlerworten spricht, ist verständlich. Drei Jahrzehnte nach dem EU-Beitritt des Landes wird langsam schlagend, was sich 1994 abzeichnete: Wenn die EU Ernst macht mit der Bildung einer Militärunion, geht Solidarität vor Neutralität. Zu dieser Formel hat Österreich sich damals bekannt. Der Krieg im Nachbarland führt nun zum sicherheitspolitischen Elchtest für ein Land, das gerne alle Vorteile der EU-Integration für sich in Anspruch nahm, sich aber zurückhielt, wenn es um militärische Solidarität ging.

Der Krieg in der Ukraine wird zur Existenzfrage für die EU. Schweden und Finnland, lange Vorbilder für die Österreicher, haben daraus ihre Konsequenzen gezogen. Österreich beharrt auf einer Sonderrolle. Dagegen gibt es nichts einzuwenden. Niemand kann das Land in ein Militärbündnis zwingen. Der Kanzler will über die Neutralität nicht einmal diskutieren, weil der Großteil der Bevölkerung diese keinesfalls aufgeben will. Auch das ist völlig legitim.

Er sollte dann aber dazusagen, was das bedeutet. Ein EU-Land, das nicht bereit ist, mit den Partnern für Frieden und Freiheit zu kämpfen, gehört nicht zum inneren Kern einer Gemeinschaft. Als das Land 1994 der EU beitrat, war das Staatsdoktrin, zumindest von SPÖ und ÖVP unter Kanzler Franz Vranitzky und Außenminister Alois Mock, die weit vorausdachten. 2023 wird das Land von einem Kanzler und von Parteien geführt, die die Vergangenheit einfrieren wollen. (Thomas Mayer, 29.6.2023)