Konfliktforscher Wilfried Graf schreibt in seinem Gastkommentar, dass man auch bei unlösbar scheinenden Konflikten Friedensprozesse vorbereiten kann – und was es dafür braucht.

Auch in sehr stark eskalierten, langandauernden und scheinbar nicht lösbaren Konflikten kann man Friedensprozesse vorbereiten und begleiten. Inoffizielle Initiativen durch zivilgesellschaftliche Akteure können dazu beitragen, offizielle Prozesse zu ergänzen, aber auch zu erweitern, durch komplexere Konfliktanalysen und kreativere Lösungsperspektiven.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine kann sich zu einer jahrelang andauernden Polykrise entwickeln, gerade nach den jetzt ausgebrochenen internen Machtkämpfen in Russland. Die Zivilgesellschaft hat dabei potenziell eine Möglichkeit, die über die von Militär und Diplomatie hinausgeht: die langfristige Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Initiativen in der Ukraine, in Russland und in den Nachbarländern. Dabei müsste sie aber die traditionellen Strategien eines "negativen" Friedens wie Waffenstillstand, Abrüstung, Neutralität erweitern – und sich gemeinsam mit lokalen Zivilgesellschaften auf die Entwicklung und Umsetzung von Ideen und Methoden für einen "positiven", nachhaltigen und gerechten Frieden konzentrieren.

Frieden Ukraine Krieg
Die Taube des Künstlers TVboy ist ein Friedenssymbol. Ein Ende der Kämpfe, des Leids ist in der Ukraine nicht in Sicht.
APA/AFP/ANATOLII STEPANOV

Wie könnte man sich eine solche positive Friedens- und Konfliktarbeit konkret vorstellen? Herb Kelman (1927–2022), Sozialpsychologe an der Harvard University, ist nicht nur ein früher Pionier der modernen Friedensforschung, sondern auch der Konfliktarbeit im Nahen Osten. Die Wurzeln seiner Forschung und Praxis, die hierzulande kaum jemand kennt, liegen übrigens in seinen Erfahrungen mit dem österreichischen Antisemitismus.

Das nach ihm benannte Institut in Wien versucht Kelmans Arbeit im Nahen Osten, aber auch in anderen Konfliktregionen fortzuführen und weiterzuentwickeln. Neben den politischen Zielen und sozialen Interessen der Konfliktparteien ist es essenziell, die kulturelle Ebene der Ideologien, Religionen und Weltbilder zu erforschen und die sozialpsychologische Ebene der tieferen Emotionen und Bedürfnisse zu verstehen.

Wir versuchen in oft jahrelangen Projekten, Verständnis für die Weltbilder der anderen zu erreichen und Konfliktlösungen zu vermitteln, die mit den verschiedenen Weltbildern in Übereinstimmung gebracht werden können. Kultureller Relativismus ist hierbei nicht zielführend, vielmehr braucht es einen kritischen Realismus, der sich der Komplexität der Realität des Konflikts im Dialog immer mehr annähern kann.

Komplexe Konflikte

Dieser interaktive Problemlösungsansatz arbeitet mit den Konfliktparteien zeitweise auch getrennt. Eine wichtige Rolle in Dialog und Vermittlung nehmen lokale Mediatorinnen und Mediatoren ein, die Konfliktparteien können damit immer mit eingebunden sein. Die entscheidende Voraussetzung in der Vermittlung im Ukrainekrieg ist daher: Gibt es längerfristig die Möglichkeit, ukrainische und russische Mediatorinnen und Mediatoren dabei zu unterstützen, ihre komplexen Konflikte auch auf der Ebene der unterschiedlichen Weltbilder zu bearbeiten.

Wir müssen uns im Klaren sein: Die Aussicht auf eine baldige Verhandlungslösung bleibt mehr als ungewiss. Eine Verhandlungslösung würde nach russischer Auffassung eine Teilung der Ukraine erfordern, wobei ein Teil an Russland angegliedert und der verbleibende Teil entmilitarisiert würde. Das ist für die Ukraine und ihre Verbündeten inakzeptabel. Ihre Strategie zielt darauf, das russische Militär zum Rückzug aus den besetzten Gebieten zu zwingen und gleichzeitig die Ukraine in das westliche Sicherheitssystem einzubinden.

Nicht verhandelbar

Russland hingegen strebt die Wiederherstellung Russlands als unangefochtene Führungsmacht in der eurasischen Arena an und betrachtet dies als einen nicht verhandelbaren Wert. Es wird deshalb nicht gelingen, die russische Machtelite zu liberalen Werten zu bekehren. Die Leitfrage für ein zivilgesellschaftliches Aktionsforschungs- und Dialogprojekt mit der russischen Seite müsste daher lauten: Gibt es innerhalb dieser illiberalen Weltanschauung der russischen Machtelite Raum für Alternativen, im Besonderen eine Alternative zur kriegerischen Zerstörung der Ukraine? Wie könnte diese aussehen?

Die Ukraine hat ihre eigenen nicht verhandelbaren Werte, in erster Linie die territoriale Integrität der Ukraine und dann ihre Integration in den Westen, um die langfristige Entwicklung und Zukunft des Landes zu sichern. Leitfrage für ein Dialogprojekt mit der ukrainischen Seite muss daher sein: Wie sieht eine Zukunftsvision für eine ungeteilte Ukraine aus, die von verschiedenen Regionen und Identitäten in der Ukraine geteilt, aber auch von ihren russischen Feinden akzeptiert sowie von ihren westlichen Unterstützern garantiert werden kann?

Alle diese Fragen der nicht verhandelbaren Werte und Bedürfnisse wird ein Friedensprozess aufgreifen, wechselseitig anerkennen und letztlich auch überbrücken müssen, wenn er konstruktiv und nachhaltig sein soll. (Wilfried Graf, 27.6.2023)