Erst vorige Woche erhielt Thomas Müller wieder einen Anruf einer verzweifelten Mutter: "Bitte betreuen Sie mein Kind", bat die Frau den Direktor der Innsbrucker Kinderklinik I, weil sie im niedergelassenen Bereich wegen Patientenaufnahmestopps keine Ordination gefunden hatte. Sie würde alles privat bezahlen. Müller ordiniert aber nicht, er muss eine Uniklinik für Pädiatrie leiten – und ist täglich mit den wachsenden Problemen im Gesundheitsbereich konfrontiert.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP, links) und der Direktor der Universitätsklinik für Pädatrie der Med-Uni Innsbruck, Thomas Müller, ein pädiatrischer Gastroenterologe bei einem Termin, bei dem der Kanzler sich über gesundheitspolitische Fragen vor Ort erkundigte.
Bundeskanzler Karl Nehammer besuchte am 22. Juni die von Direktor Thomas Müller geleitete Universitätsklinik für Pädiatrie I der Medizinischen Universität Innsbruck. Müller sagt: "Wir müssen Mangel anerkennen, wo es ihn gibt" – und dort Nachwuchs ausbilden.
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Vor zehn Tagen nutzte Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) einen Besuch in Tirol, um sich im Innsbrucker Kinderspital einen Einblick in die gesundheitspolitische Realität zu verschaffen. Danach versprach er eine "Paketlösung" zur Verbesserung der medizinischen Versorgung. Es gelte, mehr Ärztinnen und Ärzte "in den Beruf zu bringen" und dafür zu sorgen, dass jene, die ihr Studium in Österreich abschließen, auch hier arbeiten. In seiner "Zukunftsrede" hatte er bereits eine Tätigkeitspflicht für Medizin-Absolventen vorgeschlagen.

Die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) wiederum möchte den deutschen Studierenden, die wegen hoher Numerus-Clausus-Hürden in ihrem Land zu uns "flüchten", einen Riegel vorschieben und so Medizin-Studienplätze freiräumen. Derzeit sind drei Viertel der 1850 Medizinstudienplätze für Inhaberinnen eines österreichischen Maturazeugnisses reserviert, 20 Prozent für EU-Bürger, fünf für Menschen aus dem Rest der Welt.

Als eine konkrete Maßnahme gegen die Versorgungsengpässe hat die türkis-grüne Regierung für heuer 100 neue Kassenplanstellen zugesichert, mittelfristig soll um 800 Planstellen aufgestockt werden.

Viele unbesetzte Kassenstellen

Und dann wird alles gut? Das allein sei zu wenig, sagt Klinikchef Müller. Er sieht eher die Gefahr, "dass viel Geld verpuffen könnte, wenn wir es nicht zielsicher einsetzen. Jetzt muss ein großer Wurf her. Das wissen alle, die im Gesundheitssystem arbeiten." Für die einhundert Kassenplanstellen müsse es auch die fertig ausgebildeten Ärzte geben: "Gibt es derzeit tatsächlich Ärzte oder Ärztinnen, die eine Kassenstelle suchen und keine kriegen?"

Mit Jahresbeginn 2023 waren von 10.166 Kassenstellen 313 unbesetzt (99 Allgemeinmedizin, 72 Facharztstellen, 142 Zahnmedizin).

Klinikchef Müller sieht das Problem ganz woanders – und da bestehe unter Fachleuten auch Einigkeit: "Wir müssen bei der Ausbildung anfangen." Nicht mehr Studienplätze brauche man – dieser Meinung sind auch die Rektoren der Med-Unis –, sondern "was wir brauchen, sind Ausbildungsplätze für die Absolventinnen und Absolventen, die Sinn ergeben. Wir müssen sie in die Ausbildung bringen, die sie möchten und die wir brauchen."

Basisausbildung als "Nadelöhr"

Was heißt das konkret? "Die sogenannte Basisausbildung ist zu hinterfragen", sagt Müller: "Sie ist ein künstlich geschaffenes Nadelöhr, durch das alle durchmüssen, egal, welcher Arzt, welche Ärztin sie werden wollen. Eine Art Mautstelle. Wir könnten das ohne Qualitätsverlust in der Ausbildung abschaffen. Damit würde sich die Facharztausbildung wie in Deutschland auf fünf Jahre verkürzen."

Die neunmonatige Basisausbildung ist eine österreichische Besonderheit. Erst danach erfolgt die Entscheidung für Allgemeinmedizin (27 Monate Spitalsturnus plus sechs Monate Lehrpraxis) oder die Spezialisierung auf ein Sonderfach (63 Monate). Das Problem: Derzeit gibt es in den Spitälern zu wenige (wie viele genau, ist auch nicht bekannt) 1200 Basisplätze für die pro Jahr 1700 Medizin-Absolventen. Ein Teil von ihnen geht zwar ohnehin ins Ausland (oder eben wieder zurück nach Deutschland), aber es bleiben noch immer mehr, als es Basisplätze gibt.

"Das Wichtigste ist, dass die jungen Menschen nach dem Medizinstudium sofort den Wunschplatz bekommen und in die Facharztausbildung hineingehen, sonst machen sie die Basisausbildung und den Turnus für Allgemeinmedizin nur als Überbrückung, bis sie irgendwann die Facharztausbildungsstelle bekommen, die sie wollen. Wenn sie dann überhaupt noch da sind", erklärt Müller.

Drohende Pensionswelle

Er warnt vor dem "statistischen Stehsatz", Österreich habe ohnehin die zweithöchste Ärztedichte in der EU. "Diese Zahl geht an der Realität vorbei. Wir müssen Mangel anerkennen, wo es ihn gibt, etwa in der Kinderheilkunde." Müller betont, dass es natürlich Unterschiede zwischen den Ländern und der Metropole Wien gebe, die man bei Planung und Steuerung berücksichtigen müsse. "Gewisse Sonderfächer wie Augen, Haut oder Kinder- und Jugendpsychiatrie können nur an großen Kliniken ausgebildet werden. Wir haben für Pädiatrie viele Initiativbewerbungen. Wenn wir genügend Kinderärzte ausbilden und der 'Markt' in den Spitälern 'gesättigt' ist, werden die neuen Ärzte auch in die Niederlassung oder Primärversorgungszentren gehen."

Der pädiatrische Gastroenterologe wünscht sich daher für Mangelfächer 1000 Facharztausbildungsstellen in ganz Österreich, um den akuten und absehbaren Bedarf an Ärztinnen und Ärzten zu decken. Dieser steige aus unterschiedlichen Gründen. Müller nennt Arbeitszeitgesetz, Subspezialisierung in der Medizin, das steigende Vorsorgebewusstsein und den Faktor Teilzeit. Auch die von der Regierung zu Recht propagierten, wichtigen Primärversorgungszentren seien personalintensiv.

"Es ist wie in der Wirtschaft", sagt Müller: "Wenn ich Fachkräftemangel habe, muss ich mehr Leute ausbilden." Vor allem, weil ein Faktor schlummert: "In ein paar Jahren wird uns auch die Pensionierungswelle voll treffen." Laut Ärztekammer war 2021 ein Drittel der gesamten Ärzteschaft über 55 Jahre alt. (Lisa Nimmervoll, 3.7.2023)