Im Gastblog analysiert Sexualberaterin Nicole Siller Dynamiken der gemeinsamen Sexualität, die entfremden können – und zeigt, wie man aus ihnen ausbrechen kann.

Was macht wirklich gute Sexualität aus? Hier ein paar Hinweise. Was gute Beziehungen und Sexualität in jedem Fall schwächt, sind Machtspiele um die Sexualität. Ich erlebe es immer wieder, dass meine Klientinnen und Klienten, meistens unbewusst, manchmal allerdings sehr bewusst, Sexualität als Machtmittel einsetzen. Wenn in der Partnerschaft alles passt, läuft der Sex, wenn nicht, dann nicht. Klar, kaum ein Mensch hat im Laufe des Lebens immer Lust, dennoch lohnt es sich, hier ein bisschen ins Detail zu gehen.

Paar liegt im Bett
Wird Sexualität als Machtmittel eingesetzt, etwa durch Verweigerung, hat dies meist ganz andere Gründe als Unlust.
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Ich war dieser Tage bei einer Veranstaltung von Eckhart von Hirschhausen. Er fragte eine 82-jährige Zuschauerin, nennen wir sie Gerda, nach ihrem Jungbrunnenrezept. Sie sagte ganz entspannt vor all den vielen Menschen: Viel Liebe und guter Sex. Tja, da können wir uns etwas abschauen. Wohltuende und erfüllende Sexualität ist für viele Menschen eine echte Ressource. Auch die WHO widmet dem ein eigenes Health-Topic.

Gute Sexualität als wohltuende Ressource

Nicht nur, dass wir einander durch gelungene, lebendige Sexualität auch Zuneigung, Liebe, Nähe, Hingabe, Vertrauen, Entspannung, Intensität und Intimität schenken und vermitteln können, es gibt weitere echte Benefits. Wohltuende Sexualität stärkt uns selbst und unsere Beziehung, Situationship, wie auch immer wir es heute nennen. Eine aktuelle Studie zeigt auf, dass es zwar kein Patentrezept für alle gibt, es für wirklich gute Sexualität jedoch insgesamt drei Komponenten braucht: eine gute und liebevolle Verbindung zueinander, also aufeinander wirklich eingehen können, zweitens muss natürlich die Chemie passen, und zuletzt bedarf es Orgasmen.

Kleiner Rausch gefällig?

Unsere Sinne und diverse Hormoncocktails tauchen unsere kompletten Körper inklusive Nervensystem, Gehirn, Emotionen, im Grunde genommen unser gesamtes Wesen, in rauschähnliche Zustände, manchmal intensiver, manchmal weniger. Intensität ist nicht planbar, aber gestaltbar. Unser Immunsystem wird angekurbelt, ebenso der Kreislauf, meist schalten belastende Gedanken ab beziehungsweise Fantasien an, wir können gut aus dem Alltag aussteigen, können in der Erregung an- und dann auch entspannen, viele erleben gute Sexualität als echte Kraftquelle.

Sex als Machtmittel oder Ressource

Falls Sie das Gefühl haben, Ihre Sexualität steckt in einer Machtfalle, lohnt es hier, die Beziehungsdynamik insgesamt genauer zu erforschen. Oftmals liegen da alte Muster, Stressreaktionen, Verletzungen, Schutzmechanismen und vieles andere mehr dahinter. Wenn Sexualität als Machtmittel eingesetzt wird, ob als Belohnung oder – oft durch Verweigerung – als Bestrafung, hat es daher meist ganz andere Gründe als Unlust. Manchmal wiederholen wir auch unbewusst destruktive Erziehungsmuster unserer Kindheit. Dabei wäre es wirklich möglich, dass wir erwachsen Verantwortung übernehmen und damit aufhören! Denn durch Sex als Machtmittel werten wir die Partnerin oder den Partner ab, schwächen sie oder ihn, machen die andere Person zur Bittstellerin. Das ist, zumindest laut meiner Definition, einer gleichwertigen Beziehung unwürdig. Falls Sie also eine gleichwertige Beziehung leben und genießen wollen, gleich ob Sie sie schon haben oder erst finden, verzichten Sie bewusst auf Sexualität als Machtfaktor.

Ganz wichtig: Bitte dieses Verhalten nicht verwechseln mit lustvollen Machtspielen innerhalb sexueller Begegnungen, diese werden miteinander gespielt, nicht gegeneinander. Letzteres ist anstrengend und vergeudet Ressourcen, wir können nicht ans wohltuende und verbindende Ziel kommen. Denn diese Art von Sexualität ist meist nicht sehr freudvoll und kann mit der Zeit vorhersehbar, langweilig werden oder auch aufhören, weil sie so eben keine echte Freude macht oder einfach erledigt wird. Entfremdung ist so quasi vorprogrammiert. Viele Beziehungen scheitern an diesen unbewussten und unguten "Spielen". Kurz gefasst könnte man sagen: Sex als Machtinstrument entfremdet, und wohltuende Sexualität verbindet.

Gute Gespräche, lustvolle Handlungen

Wie zwei Personen aus solchen Dynamiken wieder herauskommen? Indem beide einmal schauen, was jede und jeder selbst wirklich will, auch ganz klar in der Sexualität. Indem man lernt, sich selbst gut zu (er-)spüren und dann natürlich auch mitzuteilen, einzuladen, zu verführen. Wer sich mit seinen echten Bedürfnissen zurückhält, tut beiden keinen Gefallen. Dennoch: Wünsche sind keine Bestellungen, sondern Wege, die gegangen werden können. Wohltuende Sexualität kann eine Beziehung nähren und stabilisieren und so auch in herausfordernden Zeiten eine echte Ressource sein. Dazu braucht es eben für beide diese Chemie, Orgasmen und eine liebevolle Verbindung.

Manchmal braucht es nur ein wenig Mut und einladende Worte, um verbindende, ehrliche Gespräche über Sexualität zu ermöglichen. Schon kann sich die Dynamik drehen, Freude, Neugierde und ein neues Miteinander ermöglichen. Das kann man einfach so probieren oder auch ganz einfach lernen. Die 82-jährige Gerda hat ihre Sexualität ziemlich sicher nicht als Machtmittel verwendet, sondern es verstanden, ihre Sexualität über die Jahre so zu gestalten und zu verändern, dass sie sie als Jungbrunnen vermutlich sehr oft genossen hat. Übrigens, falls jemand Gerda kennt: Ich würde sie gerne zu meinem Podcast einladen! (Nicole Siller, 4.8.2023)