Ein alter Albert Einstein blickt in die Kamera.
Albert Einstein auf einer späten Aufnahme.
IMAGO/UIG

Am 2. August 1939 setzte Albert Einstein seine Unterschrift unter einen denkwürdigen Brief, der heute ein Museumsstück ist. Darin warnt er den damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, "daß es möglich werden könnte, nukleare Kettenreaktionen in einer großen Menge Uran auszulösen, wodurch gewaltige Energiemengen (…) erzeugt werden". Damit wäre "fast sicher" in unmittelbarer Zukunft zu rechnen. "Das neue Phänomen würde auch zum Bau von Bomben führen." Vor allem die Entwicklungen der letzten vier Monate hätten dieses Szenario ermöglicht. Schließlich schreibt Einstein: "Ich habe erfahren, daß Deutschland den Verkauf von Uran (…) eingestellt hat." Seine Schlussfolgerung: Deutschland brauche das Uran selbst, weil es mit der Arbeit an einer Atombombe begonnen habe. Fast genau einen Monat später überfiel Hitler Polen, und der Zweite Weltkrieg begann. Er endete 1945 mit dem Abwurf der ersten beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki durch die USA.

Was war in diesen erwähnten vier Monaten zuvor geschehen, das Einstein so nervös machte? Es ging um Arbeiten, bei denen auch die große Physikerin Lise Meitner ihre Finger im Spiel hatte. Otto Hahn und Fritz Straßmann hatten gegen Ende des Jahres 1938 in Berlin die Kernspaltung bei Uranatomen entdeckt. Meitner und ihr Neffe Otto Frisch lieferten die Interpretation dazu. Dass bei einer solchen Reaktion große Energiemengen frei werden sollten, war bereits einige Jahre zuvor klar geworden. Die Atomkerne, um die es hier geht, werden von einer Kraft zusammengehalten, die sich von allen anderen bekannten Kräften unterscheidet. Sie ist so stark, dass sie "starke" Wechselwirkung genannt wird. Die Atomkerne sind eigentlich enorm stabil. Doch wenn sie zerlegt und neu zusammengesetzt werden, ist das immer mit dem Austausch riesiger Energiemengen verbunden. In manchen Fällen wird diese Energie frei.

Energiequellen ungeheurer Wirksamkeit

Bereits in den 1920er-Jahren sorgte diese Möglichkeit auch abseits der wissenschaftlichen Welt für Begeisterung. Ein Gramm Brennstoff könnte, sofern sich die darin gespeicherte Energie gewinnen ließe, 3.000 Tonnen Kohle ersetzen. Darauf hatte bereits Einstein selbst bei der Publikation seiner berühmtesten Formel E=mc² aufmerksam gemacht. Während andere Fachleute skeptisch waren, ob das Konzept jemals dem Praxistest standhalten würde, meinte Einstein: "Es wäre möglich und ist nicht einmal unwahrscheinlich, daß daraus neuartige Energiequellen von ungeheurer Wirksamkeit erschlossen werden." Man könne durchaus nicht wissen, ob eine solche Entwicklung nicht auch sehr schnell gehen könnte, sofern die "freigemachten Strahlen ihrerseits wieder imstande wären, gleiche Wirkungen auszuüben".

Er brachte damit erstmals die Möglichkeit einer nuklearen Kettenreaktion ins Spiel, bei der eine Kernspaltung automatisch die nächste auslösen würde. Was das bedeuten würde, erklärte er in privaten Gesprächen recht eindrücklich: Man würde "an ein Zeitalter gelangen, gegen welches die kohlschwarze Gegenwart als golden gepriesen werden müßte". Sämtliche Bombardements seit Erfindung der Feuerwaffen zusammengenommen wären dagegen eine harmlose "Kinderspielerei".

Gefangen in Netz aus Mathematik

Diese Angst trieb Einstein also um, als er Roosevelt schrieb. Die Logik, der Einstein folgte, ist heute als "Gefangenendilemma" bekannt. Vereinfacht lässt sich die Situation, die Einstein sah, so skizzieren: Zwei verfeindeten Staaten bietet sich die Chance, Atomwaffen zu entwickeln. Im Grunde können vier verschiedene Dinge passieren. Im schlechtesten Fall entwickeln beide die Waffen und laufen Gefahr, einander zu zerstören. Im etwas besseren Fall entwickelt nur einer der beiden Staaten die Waffen, und nur die Menschen des anderen Staates sind bedroht. Im besten Fall verzichten beide auf die Entwicklung der Waffen. Letzterer Fall ist für die Allgemeinheit der erstrebenswerteste. Das Problem besteht darin, dass, egal was der andere Staat unternimmt, sich durch den Bau der Waffe immer ein subjektiver Vorteil erzielen lässt.

Agieren die Beteiligten also innerhalb des Systems rational, suchen also ihren größten Vorteil, so kommt es automatisch zum schlechtestmöglichen Ausgang für alle Beteiligten. Dieser verblüffende Teufelskreis lässt sich durchbrechen, wenn sich die Parteien verständigen und ein Abkommen schließen, das kontrolliert wird. Mit den Nazis hielt das Einstein für unmöglich.

Diese Argumentation ist ein besonders prominentes Beispiel eines mathematischen Feldes, das erst in den Jahren darauf aus der Taufe gehoben werden sollte. Sein Erfinder ist der ungarischstämmige Mathematiker John von Neumann, nebenbei ein führender Mitarbeiter des US-amerikanischen Atombombenprojekts in Los Alamos. Von Neumann begründete das mathematische Gebiet der Spieltheorie, das Spiele, aber auch Verhandlungssituationen zum Thema hat, und zu dem das Gefangenendilemma gehört. Wie kompromisslos von Neuman sich an die Logik seiner theoretischen Modellsituationen hielt, veranschaulicht ein Ausspruch, den er in einem Interview mit dem "Life"-Magazin getätigt haben soll, wobei das Zitat erst mit Jahren Verspätung veröffentlicht wurde. Von Neumann war überzeugt, dass es zu einem offenen Atomkrieg mit der Sowjetunion kommen würde, und warb für einen Erstschlag: "Wenn Sie sagen, warum bombardieren wir sie nicht morgen, sage ich, warum nicht heute? Wenn Sie sagen, heute um fünf, sage ich, warum nicht um eins?"

Die zwei Forscher posieren vor einer raumfüllenden Maschine.
John von Neumann (rechts) neben Robert Oppenheimer vor einem frühen Computerprototyp.
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Ein Genie täuscht sich

Einstein stellte allerdings die Unausweichlichkeit dieser Logik infrage. Er nannte sie "scheinbare Zwangsläufigkeit". Denn natürlich sind die Beteiligten eines Gefangenendilemmas der Situation nicht ausgeliefert, sondern können das System ändern. Zudem legten spätere spieltheoretische Arbeiten nahe, dass Abschreckung ein Ausbrechen des Krieges verhindern könnte.

Letztlich täuschte sich von Neumann und der Erstschlag blieb aus. Man vermag sich nicht vorzustellen, was geschehen wäre, hätten die USA damals auf ihn gehört. Dass die Nationalsozialisten konkret an einer Atombombe gearbeitet hätten, erwies sich übrigens später als Irrtum, wie sich aus Abhörprotokollen deutscher Physiker nach dem Krieg entnehmen lässt.

Was Einstein nicht wusste: Er war nicht der Erste, der einen solchen Brief verfasst hatte. Bereits wenige Monate zuvor hatten etwa zwei deutsche Physiker den USA zur Entwicklung einer Atombombe geraten. "Das Land, welches sie zuerst nutzt", schrieben sie, "hat einen unschätzbaren Vorteil über die anderen." Einsteins Brief erreichte Roosevelt im Oktober. Von ihm ist dokumentiert, dass er die Nachricht sofort verstand: "Sie wollen verhindern, dass die Nazis uns in die Luft jagen."

Der Effekt von Einsteins Intervention blieb dennoch überschaubar. Rooseveltantwortete zwar, dass er die Warnung ernst nehme und einen Ausschuss ins Leben gerufen habe. Mit dabei waren unter anderem der von Einstein in seinem Brief erwähnte Enrico Fermi. Doch es gab nur wenig finanzielle Mittel für die Forschungen, die Einstein angeregt hatte, sodass er in einem zweiten Brief auf die Dringlichkeit der Sache aufmerksam zu machen versuchte. Erst Ergebnisse aus England überzeugten die USA, das größte Forschungsprojekt der Geschichte ins Leben zu rufen. Einstein war nicht Teil des Projekts, man betrachtete ihn als Sicherheitsrisiko.

Dieses Video erzählt von Oppenheimers Leben.
Veritasium

Einsteins Verantwortung

Spätere Vorwürfe gegenüber Einstein, er hätte wegen seiner Forschungen zur Relativitätstheorie eine Mitverantwortung für die Atombombe und ihre schreckliche Wirkung, wies der Physiker zurück. Er habe nur die Natur verstehen wollen. "Keine Spur einer Möglichkeit von technischen Implikationen war sichtbar." Seinen Brief an Roosevelt verteidigte er: "Ich war mir der schrecklichen Gefahr für die Menschheit sehr bewusst", schrieb er dem Herausgeber des japanischen Magazins "Kaizo". "Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Deutschen an genau diesem Problem arbeiten könnten, mit einer guten Aussicht auf Erfolg, veranlasste mich zu diesem Schritt. Ich sah keine andere Möglichkeit, obwohl ich immer ein überzeugter Pazifist war."

Kurz vor seinem Tod unterzeichnete er ein Manifest, das der Philosoph Bertrand Russell 1955 der Presse übergab. Dabei warnten die unterzeichnenden Forschenden vor dem Ende der Menschheit durch Kernwaffen. Ein Abkommen über den Verzicht darauf wird als Notlösung ins Spiel gebracht, sofern sich eine Abschaffung des Krieges selbst als unmöglich erweist.

Von Neumann betrachtete die Atombombe allerdings als "unwichtig" im Vergleich zum Konzept des Computers, das damals noch in den Kinderschuhen steckte und an dem er maßgeblich mitgewirkt hatte. Tatsächlich hat die Computertechnologie heute weit größeren Einfluss auf unser Leben als die Spaltung des Atoms. Zunehmende pauschale Überwachung privater Online-Kommunikation und eindringliche Warnungen vor KI-Forschung zeigen, dass ein sorgfältiger Umgang mit potenziell gefährlichen Technologien nach wie vor schwer durchzusetzen ist. Einsteins "scheinbare Zwangsläufigkeiten" sind immer noch wirksam. (Reinhard Kleindl, 20.7.2023)