Instagram liefert die besten Beweise dafür, dass der Vernunft beim Zusammentreffen von Mensch und Wildtier oft keine tragende Rolle zukommt. Menschen behandeln offensichtlich wilde Waschbären wie zahme Kätzchen, Jungtiere werden mit bloßen Händen gefangen und hochgehoben. Respektabstand oder Vorsichtsmaßnahmen wie Schutzhandschuhe? Fehlanzeige. Dabei können die in den USA im städtischen Raum weit verbreiteten Tiere einerseits äußerst rabiat und wehrhaft werden. Andererseits sind auch Exemplare, die sich friedlich gebärden, nicht frei von Krankheitserregern und Parasiten.

Waschbär in Mülltonne
Sie mögen possierlich wirken, doch auch die häufig in US-Metropolen anzutreffenden Waschbären sind und bleiben Wildtiere. Menschen sollten daher Respektabstand einhalten und die Tiere keinesfalls einfangen.
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Videos dieser Art mögen unterhalten, sie werfen aber auch die Frage nach dem richtigen Umgang mit wilder Gesellschaft in Hinterhof und Vorgarten auf. "Es ist schön, wenn ich eine Beziehung zu einem domestizierten Haustier aufbaue", sagt Richard Zink. "Wildtiere sind dafür aber absolut ungeeignet." Seit 2015 leitet der Zoologe das Citizen-Science-Projekt "StadtWildTiere", das Privatpersonen aufruft, Sichtungen von Wildtieren im Stadtgebiet zu melden.

Konflikte durch Fütterung

Für ein gutes Miteinander brauche es präventive Maßnahmen: Wildtiere nicht heranholen, nicht halten und keinesfalls mit nach Hause nehmen. Was der Forscher der Veterinärmedizinischen Universität Wien und seine Kolleginnen und Kollegen wie das Amen im Gebet predigen: Wildtiere nicht füttern. "Das führt immer automatisch zu Problemen, egal ob ich einen Fuchs oder eine Taube füttere", erklärt er.

Potenzial für Konflikte gibt es in Wien rein theoretisch ausreichend. Hier tummeln sich Füchse, Dachse, Marder, Biber, Fischotter sowie 22 Fledermausarten, um nur einige zu nennen. Mit ihrem hohen Grünanteil bietet die Hauptstadt einer Vielfalt von Wildtieren diverse und strukturreiche Habitate, darunter Feuchträume, Gebiete mit alpinem Einfluss und Gegenden mit pannonischem Einschlag.

Für Füchse und Co gibt es zudem ganzjährig reichlich Nahrung. "Die Jagd findet nicht flächendeckend statt, und im Winter ist das Klima milder als im Umland", nennt Zink weitere Pluspunkte für tierische Zeitgenossen. Angetrieben auch vom Klimawandel, könnte der Zuzug von Wildtieren in Ballungsräume noch stark zunehmen. In Kalifornien fliehen etwa Kojoten vor Waldbränden und Dürren im Umland zusehends in Siedlungsgebiete.

Wildschwein oder Löwin?

In Österreich könnte die globale Erwärmung vermehrt ein imposantes Tier in die Nähe des Menschen bringen, das in Berlin regelmäßig Schlagzeilen macht: das Wildschwein. Derzeit sorgt die Sichtung einer vermeintlichen Löwin, die nach letzten Angaben eher ein Wildschwein ist, für Aufruhr. Die nun erfolgte Laboranalyse einer Kotprobe habe gezeigt, dass das gesuchte Tier ein Pflanzenfresser sei, sagte eine Sprecherin des Landkreises Potsdam-Mittelmark.

In der Tat haben Wildschweine Berlin fest im Griff. Rotten spazieren durch Straßen, Gärten und Parks. Am Teufelssee klauen sie neben Essbarem auch Badehosen. Was lustig klingt, hat einen ernsten Hintergrund: Seit den 1980ern wächst die Wildschweinpopulation in Europa immens.

Wildschweine in Berlin
In Berlin leben Schätzungen zufolge bis zu 6.000 Wildschweine. Die Exemplare im Foto bedienen sich an Speiseresten, die sie am Teufelssee im Ortsteil Grunewald finden.
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Die Gründe dafür waren lange ein Rätsel. Heute weiß man, dass milde Winter und deren Häufung das Populationswachstum anfachen. Als weitere Ursache gilt die Überdüngung der Landschaft: Wo mehr wächst, gibt es für Arten mit breitem Nahrungsportfolio mehr zu fressen. Generalisten wie Füchse und Wildschweine sahnen dadurch in der Nahrungskette ab. Haben sich Wildschweine einmal im urbanen Raum eingenistet, wird ihre Regulierung schwierig. "Jagd ist im Siedlungsbereich unmöglich. Wenn die Population einmal so hoch ist wie in Berlin, ist eigentlich nichts mehr zu machen", sagt Zink. Schätzungen zufolge leben bis zu 6.000 Exemplare in Berlin, wo sie regelmäßig Gärten und landwirtschaftliche Kulturen verwüsten.

Fallobst und Komposthaufen

Im Gegensatz dazu habe Wien die Wildschweinsituation gut im Griff. In der österreichischen Hauptstadt sind die Tiere hauptsächlich in der Donaustadt rund um die Lobau und in den an den Wienerwald und den Bisamberg grenzenden Siedlungsgebieten anzutreffen.

Vereinzelt komme es vor, dass sie in dichter besiedelte Bereiche vordringen, heißt es auf Anfrage vom Wildtierservice der Stadt Wien. Als wahre Wildschweinmagneten wirken Fallobst und Komposthaufen. Doch einerseits existiere in Wien ein gezieltes Schwarzwild-Monitoring. Andererseits würden Bewohnerinnen und Bewohner betroffener Gebiete darüber informiert, was Wildschweine anzieht. Gemeinsam erarbeite man Lösungswege, die ein Zusammenleben ohne Zwischenfälle vereinfachen sollen.

Hitchcock lässt grüßen

Denn die voluminösen Säuger gelten bei Fachleuten als die - vom Bären abgesehen - gefährlichsten Wildtiere unserer Breiten. Angriffslustig sind etwa Weibchen (Bachen), die Frischlinge im Schlepptau haben und diese in Gefahr glauben. Brenzlig kann es auch werden, wenn sich ein Männchen (Keiler) bedroht fühlt. Beim Zusammentreffen sucht man am besten ruhig das Weite oder flüchtet sich, so vorhanden, auf einen Baum oder Hochstand.

Doch zurück zu jenen Umständen, die den meisten Wildtier-Mensch-Konflikten vorausgehen: das Anfüttern und die Handaufzucht. "Gefundene Jungtiere gehören in professionelle Betreuung", unterstreicht Zink. Zieht man sie von Hand auf, verlieren sie völlig die Scheu vorm Menschen. An diesem Punkt werde es wirklich problematisch, etwa wenn ein Steinmarder die Nähe der Menschen suche, weil er diese als Artgenossen betrachtet. In Fachkreisen spricht man von Verprägung.

"Wir hatten den Fall einer von Hand aufgezogenen Krähe, die durch alle offenen Fenster geflogen ist und sich in diversen Küchen bedient hat", erinnert sich Zink. Die Telefone diverser Wildtier-Hotlines seien heiß gelaufen. Während zahme Krähen Menschen meist nur erschrecken, können zutrauliche Füchse lebensgefährlich werden. Sie laben sich gerne an für Katzen aufgestellten Milchschalen und besuchen Siedlungen noch häufiger, wenn sie zusätzlich bewusst gefüttert werden.

Krähe in der Stadt
Zu den häufigsten zugewanderten Tierarten der Stadt zählen Krähen. Werden sie zu zutraulich, können sie bei manchen Menschen für Angst sorgen.
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Folgenschwere Eingriffe

Erleichtern sich die nachtaktiven Jäger in Gärten, können infizierte Tiere mit der Losung auch die Eier des Fuchsbandwurms ausscheiden. Menschen stecken sich meist unbemerkt, etwa durch verunreinigte pflanzliche Lebensmittel, an. Das Krankheitsbild der alveolären Echinokokkose gleicht dem eines bösartigen Tumors. Unbehandelt führt sie nach schleichendem Verlauf innerhalb von zehn Jahren in über 90 Prozent der Fälle zum Tod. Für Kopfzerbrechen sorgt unter Fachleuten, dass die Fälle derzeit - von Westeuropa ausgehend - zunehmen.

Spielende Füchse
Balgende Jungfüchse sind wahrlich ein entzückender Anblick. Fachleute mahnen aber mit Nachdruck dazu, die Tiere nicht anzufüttern.
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Die Ursache dürfte wiederum menschengemacht sein. Dass Österreich seit 2008 als tollwutfrei gelte, berge auch Nachteile, erläutert Zink: "Früher wurden Wildtierpopulationen durch Seuchenzüge reguliert, doch diesen Regulationsfaktor haben wir ausgeschaltet, die Folge könnte das Problem der weiten Verbreitung des Fuchsbandwurms sein." Menschliche Eingriffe in die Natur führen aufgrund der komplexen Zusammenhänge oft zu Komplikationen. Bevor man Fuchs und Konsorten also mit Futter verpflegt, sollte man sich eines vor Augen führen, resümiert Zink: "Wenn Wildtiere sich nicht selbst versorgen könnten, wären sie längst ausgestorben." (Marlene Erhart, 25.7.2023)