"Mein Gott, Israel", rufen in diesen Tagen zahllose Menschen in aller Welt aus, die den jüdischen Staat schätzen, bewundern und auch lieben. 75 Jahre nach seiner Gründung ist Israel das vielleicht erfolgreichste Projekt einer Staatsbildung der Geschichte. In bitterer Armut entstanden, von mächtigen Nachbarn in seiner Existenz bedroht, ist das Land heute wohlhabend, innovativ, demokratisch – und dank seiner militärischen Stärke sicher. Die jahrzehntelange Besatzung des Westjordanlands und die damit verbundene Unterdrückung von Millionen Palästinensern ist ein Schandfleck in dieser Bilanz. Aber bis vor kurzem gab es die Hoffnung, dass ein Friedensvertrag diesen Zustand eines Tages beenden kann.

All diese Erfolge stehen nun auf dem Spiel. Denn Israel wurde von aufgeklärten Europäerinnen und Europäern gegründet, die eine solidarische, vornehmlich säkulare und grundsätzlich tolerante Gesellschaft schufen. Ultraorthodoxe Gruppen und radikale Nationalisten waren von Anfang an zwar dabei, aber sie bildeten eine Minderheit.

Gegendemonstrationen in Israel.
Die Reformvorhaben der Regierung führten zu den größten Gegendemonstrationen, die Israel je erlebt.
IMAGO/ZUMA Wire

Seit der letzten Wahl stellen sie allerdings die Mehrheit in der Knesset und betreiben seit Jahresanfang den radikalen Umbau dieses Staates. Es ist nicht nur der Inhalt der so umstrittenen Justizreform, der für so viel Empörung sorgt. Mit ihr werden die konstitutionellen Kontrollen, die ein Rechtsstaat so bitter benötigt, außer Kraft gesetzt, damit – mit den Worten eines heimischen Gesinnungsgenossen – das Recht immer der Politik folgt. Dennoch: Diese Fehlentwicklung ließe sich von einer späteren Regierung wieder richten.

Historischer Wendepunkt

Noch viel schlimmer ist die Art, wie diese Regierung des einst meist vernünftig agierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die Reformen durchpeitscht, ohne ernsthafte Debatte, ohne Bereitschaft zu Kompromissen und unter Missachtung der größten Protestwelle, die Israel je erlebt hat. Wenn Regierungsvertreter behaupten, sie würden nur die Demokratie gegen eine nicht gewählte Richterschaft verteidigen, dann straft sie allein dieses zutiefst autoritäre Vorgehen Lügen.

Sie riskieren damit die Zerstörung einer einzigartigen Erfolgsgeschichte. Entweder kommt es zur Gewalt, die sogar in einen Bürgerkrieg münden könnte, oder aber zu einer Flucht der säkularen Israelis aus einem Land, das dann nicht mehr wiederzuerkennen wäre.

Israels Wirtschaft braucht die IT-Ingenieure und Start-up-Unternehmerinnen, das Militär die Piloten, die Kunstszene die Künstlerinnen und Künstler, und die Universitäten brauchen die Forscherinnen, die alle mit radikalem Siedlertum und religiösem Fanatismus nichts zu tun haben wollen.

Schon vergleichen führende Intellektuelle wie der Historiker Yuval Harari die heutige Krise mit dem messianischen Wahn, der einst zur Zerstörung des ersten und des zweiten Tempels geführt hat, zwei der großen Katastrophen in der jüdischen Geschichte.

Die Abstimmung am Montag, mit der das Parlament die Entmachtung des Höchstgerichts beschlossen hat, könnte sich als neuerlicher historischer Wendepunkt erweisen, der in eine dunklere Zukunft führt. In einem tiefgespaltenen Land muss die eine Seite hilflos zusehen, wie die andere den so mühsam aufgebauten Staat demontiert und einen neuen errichtet, der im besten Fall der Türkei und im schlechtesten dem Iran ähneln wird. (Eric Frey, 24.7.2023)