Der Chor wird nun mit jedem Tag lauter. Je näher der Start der wichtigen Herbstlohnrunde in der Metallindustrie rückt, umso vehementer werden die Rufe nach Lohnzurückhaltung in Richtung Gewerkschaften ertönen. Das Argument geht so: Die Inflation in Österreich lag in den vergangenen Monaten deutlich über dem Wert der Eurozone. Um eine zweite Runde an problematischen Preissprüngen zu verhindern, sollte der ÖGB sich bei den Lohnforderungen beschränken.

Haben solche Forderungen Sinn? Nein, haben sie nicht. Zunächst ist die Inflation exorbitant hoch, weil in einem ersten Schritt Unternehmen ihre Preise erhöhten und sich der Konsum verteuerte. Zeitversetzt stiegen Mieten, weil diese an die Inflation gekoppelt sind. Weder Unternehmen noch Vermieter waren bereit, auf Einnahmen zu verzichten. Das ist in einer Marktwirtschaft, wo Gewinnmaximierung die Antriebsfeder ist, vernünftig. Aber genauso absurd wäre es, von der Gewerkschaft zu verlangen, mit der Zurückhaltung ausgerechnet bei der größten Gruppe zu beginnen, zumal Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nur für schon entstandene Kosten kompensiert werden sollen.

Vor Beginn der Herbstlohnrunde will die Gewerkschaft noch den Druck erhöhen. ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian kündigte für 20. September eine Menschenkette um das Parlament an, um Maßnahmen gegen die Teuerung einfordern.
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Nun wird gern eingewandt, dass es zwar angebracht sein möge, mehr Geld zu fordern, die wirtschaftliche Vernunft aber dagegen spreche. Gewarnt wird vor einer Lohn-Preis-Spirale, also einer sich selbst anfachenden Inflation, bei der Preise die Löhne treiben und diese wieder die Preise. Aber Analysen der Oesterreichischen Nationalbank und des Instituts für Höhere Studien zeigen, dass nur ein Teil der höheren Lohnkosten in höhere Preise fließt. Steigen Löhne um einen Euro, erhöht das die Preise um 30 bis 50 Cent. Eine sich selbst verstärkende Spirale wird es also nicht geben. Explodieren die Energiepreise nicht erneut, wird die Inflation nachlassen.

Und was ist mit der Wettbewerbsfähigkeit? Werden unsere Unternehmen abgehängt, wenn Preise zu stark steigen? Für einen Großteil der Betriebe geht dieses Argument ins Leere, weil sie in keinem Wettbewerb stehen, etwa der Bäcker ums Eck. Für die Industrie oder den IT-Sektor ist das anders. Aber erstens haben viele Unternehmen in den vergangenen Jahren gute Gewinne eingefahren. Sie können einen Teil der höheren Kosten schlucken, machen zwar weniger Gewinn, aber halten ihre Marktposition.

Zudem ist die Industrie jener Sektor, in dem die Produktivität am stärksten steigt. Die österreichische Formel für Lohnverhandlungen bezieht die Produktivitätsentwicklung der Gesamtwirtschaft mit ein – das wirkt ohnehin lohndämpfend. Schließlich: Treiben hohe Lohnabschlüsse die Arbeitslosigkeit? Kann passieren. Aber aktuell gibt es eine Rekordzahl an offenen Stellen, die Arbeitslosigkeit steigt trotz Nullwachstums so gut wie nicht. Auch dieser Einwand greift also kaum. Nun gibt es die Forderung, Lohnnebenkosten zu senken, wenn dafür die Löhne weniger steigen. Arbeit ist zu stark belastet, keine Frage. Aber gibt es für eine Senkung der Lohnkosten keine Gegenfinanzierung von anderer Stelle, dann tragen Arbeitnehmer die Last dieser Maßnahme.

Gewerkschaften sollen also ruhig ordentlich fordern. Müssen Unternehmen darauf einsteigen? Nein. Wenn es den Arbeitgebern gelingt, in den Verhandlungen einen moderaten Abschluss durchzusetzen, so soll das so sein. Auch das gehört zu einer liberalen Marktwirtschaft. Aber eine Gewerkschaft darf kämpfen. (András Szigetvari, 29.8.2023)