Im Gastblog schreibt Nicole Siller über Leidenschaft, Liebe, Erwartungen, Sehnsüchte, Nähe und Authentizität.

Sehnen Sie sich auch nach freudiger Intensität? Nach dem Gefühl der echten Hingabe, der Begierde, nach einem vom Körper selbst produzierten legalen Drogenrausch, einem Mix von Endorphinen, Dopamin, Oxytocin, Adrenalin und vielem mehr? Oder gehören Sie eher zu den Menschen, denen das ein bisschen Angst macht, die lieber die Kontrolle behalten? Intensität halten nicht alle Menschen aus – andere sind süchtig danach.

In unseren Breiten beginnen viele Beziehungen mit erotischer Anziehung, mit Leidenschaft, ja, vielleicht mit Begierde, mit oft auch daraus resultierender Verliebtheit. Und ja, es kann durchaus aus Verliebtheit so etwas wie Liebe entstehen – allerdings sind das ganz unterschiedliche Phasen der Begegnungen und Beziehungen.

Zwei Frauen liegen auf einem Sofa
Wie gelingt es, Leidenschaft und Verliebtheit beizubehalten?
Getty Images/ALEKSANAR VRZALSKI

Kurz gefasst: Verliebtheit passiert und wir projizieren viel in den Menschen, den wir so anziehend finden, hinein, können vielleicht sogar gar nicht wirklich erkennen, wie der oder die Andere wirklich ist. Das ist ganz "normal". Liebe ist die Entscheidung, einen Menschen mit unterschiedlichen Facetten kennenzulernen, anzunehmen und so zu lieben, wie er tatsächlich ist, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sein müssen. Dennoch wünschen sich viele leidenschaftliche Verliebtheit in der Liebe – und ja, das geht. Das ist vor allem auch eine Frage der inneren Haltung, der Entscheidung, des Wollens und der gemeinsamen Inszenierung.

Wenn unsere Erwartungen nicht wären

Ohne unseren Erwartungen könnten wir viel mehr das genießen, was tatsächlich da ist. Wir könnten uns bei Anziehung und Verliebtheit auf einander einlassen und neugierig erleben, was daraus wird, was zwei daraus machen, wie sie sich miteinander weiter entwickeln, wohin die Reise führt. Klar, das birgt die "Gefahr des Scheiterns", allerdings – ist das Leben nicht eine ewige Aneinanderreihung von Erfahrungen, ein Lernprozess? Ich erlebe viele Menschen, die versuchen, "alles richtig" zu machen, statt authentisch und mal nicht perfekt zu sein. Da stellt sich einerseits immer gleich die Frage: für wen richtig? Für die Ex-Partnerin, bei der wir gelernt haben? Für einen selbst oder doch ganz empathisch für den Partner? Und andererseits: ist dieses "richtig-Machen" ehrlich, also authentisch?

Das kann eine Beziehung ziemlich belasten, dieses richtig-machen-Wollen, vor allem, wenn es unterschiedliche Erwartungen an Werte und insbesondere gelebte "Inhalte" und Gefühle geht. Wenn einer beispielsweise mehr in gemeinsamen Erlebnissen Verbundenheit erlebt, während der andere sich auch nahe fühlt, wenn jeder sein Eigenes lebt, für ihn aber auch klar ist, woraus die gemeinsame Intimität besteht. Und ja, das geht weit über Sexualität hinaus.

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und das macht auch vor Begegnungen und Beziehungen nicht halt. Viele wollen sicher sein, dass die Beziehung wirklich hält und verpassen beim Checken der langen Liste von Vorstellungen in der Zwischenzeit wunderbare Begegnungen, vielleicht auch die eine große Liebe, die eben nicht perfekt ist. Diese Sicherheit zu wissen, die gibt es im Grunde nicht. Da bleiben manche Menschen lieber bei diversen Gspusis, die nicht wirklich nahe kommen können, weil immer ein Fehler gefunden wird – und so bleibt so mancher geschützt in der sehnsüchtigen Komfortzone.

Apropos Sehnsucht

Klar, ich arbeite mit Menschen, die mit der Art, wie sie gerade leben und lieben, nicht ganz zufrieden und glücklich sind, die etwas verändern wollen. Ob Singles mit der Frage, welche Form der Beziehung passen könnte oder wie sie sich wieder gut auf jemanden einlassen können, wenn die Angst vor Verletzungen schon groß ist, und auch mit Menschen, die in einer Beziehung sind und sich fragen, ob sie da noch richtig sind und natürlich mit Paaren, auf der Suche nach Klarheit, Verbundenheit, Nähe, Intensität, nach Lust und Leidenschaft. Ich habe fast den Eindruck, jeder Mensch hat eine Sehnsucht, es geht immer darum, die eigenen Bedürfnisse gut zu erspüren und auch die des Anderen.

Sehr oft stellt sich dann heraus, dass die Erwartungen nicht klar sind, oft nicht mal einem selbst. Oft leben die Wünsche aneinander vorbei, fast immer liegt es an der Kommunikation – ob zu wenig, zu viel, missverständlich. Wenn zwei einander wirklich wertfrei zuhören können, nachfragen, wertschätzen, neugierig bleiben und Unterschiedlichkeiten anerkennen, dann ist das meist sehr verbindend – auch wenn wir nicht immer einer Meinung sein müssen.

Diese Verbundenheit, das ist eine große Sehnsucht bei Vielen, dieses Gefühl von "da gibt es verlässlich wohltuende Menschen" oder "ich fühle mich wirklich gesehen und verstanden". Ob gute Freundinnen und Freunde, liebevolle Sex-Buddies, die eine Person, mit der man sich auf eine Beziehung einlassen möchte, eine Partnerin, die schon lange an der Seite ist, und man einander wieder wirklich nahe kommen möchte.

 Nebeneinander oder miteinander?

Erlebt man Nähe und Verletzlichkeit oder regieren Wut, Enttäuschung, Schmerz, Traurigkeit und Einsamkeit? Es gibt viele Gründe, warum wir Nähe meiden, das läuft oft nicht bewusst. Da sind Mütter enttäuscht, weil doch der Großteil der Care-Arbeit bei ihnen hängen bleibt, während der Mann Karriere macht. Da sind Männer, die sich fragen, welche Rolle sie für die Partnerin oder den Partner spielen, weil es keine Berührungen, keine Küsse mehr gibt. Da gibt es zu viele Paare, die viel zu lange warten, um wieder Nähe, Intimität oder Zärtlichkeit, echte Verbundenheit zu spüren. Die einander vertraut und lieb sind, aber ganz weit auseinander gelebt, dennoch in Elternrollen oder als eingespieltes Team im Alltag gut funktionieren. Nebeneinander statt miteinander.

Es gibt recht gut funktionierende Mittel, um einander wieder nahe zu kommen. Verlassen Sie Ihre gewohnte Komfortzone, tun Sie etwas anderes miteinander. Vor allem trauen Sie sich und erzählen Sie einander von Ihren Ängsten, von ihrer Traurigkeit und von Ihren Sehnsüchten. Das ist einander zuzumuten, verzichten Sie auf Schonhaltung, diese hält viel zurück und trennt mehr, auch wenn es "gut gemeint" ist.
Gestehen Sie sich ein, dass Sie auch mal ent-täuscht sind, wenn diese Täuschungen mal weg sind, kann wieder Echtheit und Nähe entstehen. Und wenn es zu zweit nicht klappt, holen Sie sich Unterstützung!

Was Authentizität mit all dem zu tun hat?

Jeder Mensch wurde geprägt von Erwartungen, Beliefs (Glaubenssätzen), Hollywood-Filmen und Regeln. So weit, so gut. Manchmal hat das nicht unsere ureigene Persönlichkeit und Selbstsicherheit gefördert, sondern uns mehr angepasst werden lassen. Je selbstverständlicher wir von klein auf lernen, nicht nur dazuzugehören, sondern auch "anders" zu sein, unsere Eigenheiten, Stärken und Schwächen anzuerkennen, umso selbstverständlicher werden wir nicht nur Individuen, sondern eben auch Persönlichkeiten.

Es wäre so wertvoll, zu verstehen, dass es nicht darum geht, "es richtig" (wer sagt, was das überhaupt ist?) zu machen, sondern ein freudiges Leben so zu gestalten, dass wir mit anderen gerne gemeinsam sind, neugierig aufeinander sein können. Auch in der Leidenschaft, der Liebe, der Sexualität.

Wir können unser Leben nicht kontrollieren, auch wenn wir das noch so sehr wollen. Es ist gut zu wissen, in welche Richtung es gehen soll, doch tatsächlich kommt es doch oft anders, als gedacht. Schön, dass unser Kopf und unser supertolles Gehirn gut funktionieren. Unsere Gefühle und Emotionen, unsere Werte, unsere Haltung, all das und viel mehr lässt uns uns selbst authentischer spüren, leben und sein. Für sich selbst und miteinander. (Nicole Siller, 8.9.2023)