"Das wirtschaftliche Fundament Chinas wackelt." Dem Land drohe, was Japan schon erlebt habe, nämlich "eine verlorene Dekade". Mikko Huotari, Chef des Berliner Thinktanks Merics, sieht das Land an einem Wendepunkt, Chinas Wachstumsmodell stecke in einer Sackgasse. Allerdings ist bei solchen Kassandrarufen Vorsicht geboten – sie waren während Chinas mehr als 40-jährigen wirtschaftlichen Aufstiegs bereits öfters zu vernehmen, eingetroffen sind sie bisher nicht.

Ein älterer Chinese mit einem Kind vor aufgehängten Zetteln mit Heiratsinseraten. 
Langfristig wirkt die Überalterung in China als wirtschaftlicher Bremsklotz, im Reich der Mitte bringt eine Frau im Durchschnitt nur 1,2 Kinder zur Welt.
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Bis zur Corona-Pandemie galt es unter Experten, etwa jene von Goldman Sachs, als ausgemacht, dass das Reich der Mitte Anfang des nächsten Jahrzehnts wegen des starken Wachstums zur weltgrößten Wirtschaftsmacht aufsteigen wird. Zum Vergleich: Im Vorjahr belegten die USA mit 25,5 Billionen Dollar Wirtschaftsleistung Platz eins, China folgte mit fast 18 Billionen Dollar.

Aber mit der Pandemie wurden die Karten neu gemischt, das Reich der Mitte schlitterte in eine wirtschaftliche Flaute. Die Krise im Immobiliensektor, der für rund 30 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung und zwei Drittel der Vermögen der Haushalte steht, brodelt weiter. Nachdem unlängst Evergrande in den USA Gläubigerschutz beantragt hatte, ist mit Country Garden nun auch der größte Immobilienentwickler ins Wanken geraten.

Enorme Verschuldung

Die Folgen: Statt zu konsumieren und zu investieren, horten Verbraucher und Unternehmen ihr Erspartes – weshalb im Reich der Mitte zuletzt eine Deflation, also sinkende Verbraucherpreise, verzeichnet wurde. Die Regierung in Peking versucht zwar die Wirtschaft zu stützen, aber wegen der hohen Verschuldung sind ihr und den regionalen Verwaltungen weitgehend die Hände gebunden. Seit der Finanzkrise haben sich die Gesamtschulden der öffentlichen Hand von 160 auf 360 Prozent der Wirtschaftsleistung mehr als verdoppelt.

Die Immobilienkrise ist nur ein Grund, weshalb die Experten von Bloomberg Economics die Prognosen für das Reich der Mitte zusammengestutzt haben und daraus folgern: Das Land werde die USA als weltgrößte Volkswirtschaft womöglich nie ablösen – zumindest nicht bis Mitte dieses Jahrhunderts. Denn bis 2030 soll sich das Wachstum gemäß verringerter Prognose auf 3,5 Prozent pro Jahr reduzieren, bis 2050 auf gar auf ein Prozent.

Geringeres Wachstum

"China schwenkt früher als erwartet auf einen langsameren Wachstumspfad ein", erklären die Bloomberg-Ökonomen. Als Ursache verorten sie neben der Immobilienkrise auch ein "schwindendes Vertrauen in Pekings Wirtschaftsmanagement". Wenn sich dies verfestige, würde es das Wachstumspotenzial nachhaltig beeinträchtigen.

Kurzum, es wird für China wohl nicht reichen, um die Vereinigten Staaten abzufangen, wo das Wachstum noch zur Mitte des Jahrhunderts 1,5 Prozent betragen soll. Derzeit hält dort ein robuster Arbeitsmarkt den Konsum am Laufen, zudem sorgen die schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme wie der Inflation Reduction Act für einen Investitionsboom in der Industrie.

Bevölkerung schrumpft

Gegenwind erwartet China auch durch die Demografie: Dort liegt die Geburtenrate bei 1,2 Kindern pro Frau, in den USA bei fast 1,8. Zudem gehen die USA offener mit Immigration um, besonders bei qualifizierten Arbeitskräften. Als Folge verzeichnete China im Vorjahr den ersten Bevölkerungsrückgang seit den 1960er-Jahren. Das Heer an billigen Arbeitskräften, das viel zu Chinas langfristigem Wachstum beigetragen hat, schrumpft schnell.

Ein Schweißer verrichtet seine Arbeit.
In Chinas Industrie sind Facharbeiter wie Schweißer bereits Mangelware.
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Dazu kommen Defizite in der Ausbildung junger Menschen in China, die unter hoher Arbeitslosigkeit leiden. Goldman Sachs attestiert dem Land eine "Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten" der Uni-Absolventen und den Anforderungen von Unternehmen der Industrie. Der China-Chef eines großen europäischen Unternehmens berichtet etwa im Handelsblatt, er suche händeringend Schweißer, könne sich aber bei Verwaltungsjobs kaum vor Bewerbungen retten.

Zurück zu Merics-Chef Huotari, der in China überfällige Strukturreformen vermisst. Dennoch, im Gegensatz zu den Bloomberg-Ökonomen ist der Zug zum Aufstieg zur wirtschaftlichen Nummer eins bis Anfang des nächsten Jahrzehnts für ihn nicht abgefahren. "Das ist schon möglich, aber es hängt von den Entscheidungen ab, die China in den nächsten Monaten trifft." (Alexander Hahn, 6.9.2024)