Nehammer, links im Bild während einer Parlamentssitzung, Kickl rechts
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) im Parlament mit Herbert Kickl (FPÖ).
Foto: APA / Robert Jäger

Wo unsereins geht und steht, wird man gefragt, ob man sich vorstellen könne, dass Herbert Kickl wirklich Kanzler werde. Das Thema beherrscht nicht nur die professionelle, sondern auch die gesellschaftliche Debatte, zumindest unter interessierten Bürgerinnen und Bürgern.

Die Antwort ist: ja, denkbar, aber nicht wahrscheinlich. Die 30 Prozent, die die Kickl-FPÖ jetzt konstant in den Umfragen hat, sind zu einem guten Teil auf jene Unzufriedenen zurückzuführen, die jetzt einmal bei Umfragen eine entsprechende Antwort geben, aber am Wahltag doch davor zurückschrecken, eine radikale Partei zu wählen, die durch einen Radikalen wie Kickl repräsentiert wird.

Erschreckende Umfragen

Von der speziellen österreichischen Situation gleich mehr. Aber es gibt da auch einen grundsätzlichen Aspekt, nämlich die Frage, ob der Anstieg der Rechtspopulisten und Rechtsextremen in Europa und den USA quasi unvermeidlich und ein Naturereignis ist. Weil nämlich die großen Entwicklungen – Verunsicherung der Mittelklasse durch Krisen, Kriege, Pandemien – die Leute naturgesetzmäßig zu den demokratiefeindlichen Rechtsparteien und damit weg von der Demokratie treiben.

Diese Annahme wird durch die Erfolge der Rechtspopulisten in ganz Europa und durch erschreckende Umfragen scheinbar bestätigt (54 Prozent gaben jetzt in Deutschland an, weniger Vertrauen in die Demokratie zu haben).

"Die Leute tolerieren oft eine autoritäre Herrschaft, aber sie stimmen nicht an der Wahlurne für sie, wenn es eine Alternative gibt." (Ivan Krastev)

Doch es gibt auch andere Sichtweisen. Der renommierte amerikanische Politikwissenschafter Larry Bartels argumentiert in seinem neuen Buch (Democracy erodes from the Top), dass die Zustimmung zu weit rechter Politik und weit rechten Parteien in den letzten 20 Jahren in Europa mehr oder weniger konstant geblieben ist. Zwar sei die extreme Rechte auch tatsächlich an die Regierung gelangt, vor allem in Italien, in Ungarn und in Polen, demnächst vielleicht in der Slowakei; das sei aber (besonders im Fall Italien) nicht geschehen, weil die Rechte eine so überwältigende Zustimmung habe, sondern wegen des Unvermögens der liberaleren Parteien, sich selbst zu organisieren und, wenn notwendig, Koalitionen zu schließen. Der bekannte Osteuropaexperte Ivan Krastev zitiert Bartels in der Financial Times zustimmend und schreibt: "Die Leute tolerieren oft eine autoritäre Herrschaft, aber sie stimmen nicht an der Wahlurne für sie, wenn es eine Alternative gibt."

In Österreich bedeutet das: Ziemlich viele Menschen stimmen mit den radikaleren, autoritären Positionen der FPÖ überein, sie vermögen sie auch oft gar nicht als radikal zu erkennen – aber sie würden letztlich nicht für sie stimmen, wenn ÖVP, SPÖ, Grüne und Neos ein überzeugenderes Bild abgäben.

Reaktionäre Kamarilla

Unfälle können allerdings immer passieren. Eine entschlossene, undemokratische Minderheit kann die Demokratie unter Umständen aushebeln. Vor allem wenn andere dabei mithelfen: Eine weitverbreitete Meinung ist, dass Adolf Hitler "gewählt" wurde; das ist die halbe Wahrheit: Er wurde von einer reaktionären Kamarilla aus Ultrakonservativen und Deutschnationalen an die Macht gehoben. Die NSDAP hatte im November 1932 genau 33,1 Prozent, sie war stärkste Partei, aber weit entfernt von einer absoluten Mehrheit. Doch die Reaktionären überzeugten Reichspräsidenten Hindenburg, Hitler als Kanzler einzusetzen. Sie glaubten, sie würden ihn schon zähmen …

30 Prozent sind keine parlamentarische Mehrheit. Kickl wird nur dann Kanzler, wenn die demokratischen Kräfte in den anderen Parteien, vor allem in der ÖVP, zu dummschlau, zu kurzsichtig und zu uneins sind. (Hans Rauscher, 9.9.2023)