Anders als in früheren Jahren gab es heuer keine Kameraschwenks über Weinberge oder lodernde Feuerschalen. Auch Störfaktoren wie Domglocken und Gelsen wurden von vornherein ausgeschlossen. Nichts sollte ablenken von der Politikkost, die der ORF seit 1981 kredenzt, heuer aus der Konserve, ein paar Tage vorher eingekocht: Die Sommergespräche fanden im renovierten Parlament statt – im jetzt nach dem Plenarsaal wohl zweitberühmtesten Raum im Hohen Haus.

Im "Sprechzimmer 23", das in Wirklichkeit Sprechzimmer Nummer zwei von vier ist. Für den TV-Talk 2023 wurde aus einem "B" aus dem Lager ein Dreier gebastelt und in Absprache mit dem Denkmalschutz an der Tür montiert. Dahinter empfing Moderatorin Susanne Schnabl die fünf Parteivorsitzenden. Das fensterlose Kammerl begeisterte nicht alle. Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger empfand es als "ein bissl düster und schräg ausgeleuchtet". FPÖ-Chef Herbert Kickl erinnerte die Location an ein "Stasi-Verhörzimmer".

Wichtiger aber als das Licht-und-Schatten-Spiel zwischen Retrostehlampe und Scheinwerfer ist ohnehin das Gesagte und das Nichtgesagte. DER STANDARD bat daher den Körpersprache-Experten Stefan Verra – er arbeitet u. a. für die US-Navy und die Nato – um eine Analyse der Performance der Gäste (siehe unten). Ein Jahr vor der Nationalratswahl unter besonderer Berücksichtigung der (körper)sprachlichen Anforderungen für das politische Amt, das ja eigentlich alle anstreben. Sie wollen Kanzler oder Kanzlerin werden.

Was versteht Verra unter Kanzlereignung?

Wichtig seien zwei Faktoren: "Ein Kanzler oder eine Kanzlerin wird nur dann erfolgreich sein, wenn er oder sie eine möglichst große Bandbreite an emotionalen Triggerpunkten anbietet." Das bedeutet: "Es gibt Menschen, die wollen Law and Order. Denen muss man das Gefühl von Strenge vermitteln. Es gibt aber auch Menschen wie Start-up-Unternehmer, die wollen eine Vision, jemanden, der ihnen das Gefühl von Zukunftsfreude eröffnet. Und da sind Leute, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie alle brauchen unterschiedliche kommunikative Signale", erklärt Verra. "Die meisten Politiker glauben, wenn sie die Themen benennen, reicht das. Dabei wird es erst durch die Körpersprache glaubwürdig." Ein Kanzler müsse außerdem im Gegensatz zu Oppositionspolitikern auch staatstragend sein können. "Das ist am deutlichsten sichtbar, wenn unser Kanzler ins Ausland reist. Sind wir dann froh, dass er uns vertritt, oder ist er uns ein bisschen peinlich?"

Was zeichnet die gesprochene Kanzlersprache aus?

"Jeder Spitzenpolitiker ist der Übersetzer der Sachpolitik hin zum Volk. Das missverstehen ganz viele Politiker", sagt Verra. "Kickl macht das besser als alle anderen. Babler macht es auch ganz gut. Ich muss einen komplexen Zusammenhang an Einzelbeispielen erklären. Auch das Bildungsbürgertum wird nicht angetriggert durch die Zahl 4,5 Milliarden. Der Mensch kann das nicht verarbeiten."

Wer diese Form der vielschichtigen Kommunikation mit emotionalen Signalen nicht mache, überlasse die Menschen der (populistischen) Opposition, "oder meistens wandern sie zu den Nichtwählern. Wenn sie einmal in diesen bildhaften Storys der Verschwörungstheoretiker oder Schwurbler verhaftet sind, sind sie nicht mehr zurückholbar."

Und Sprechzimmer 23? Was sagt Verra dazu? "Eine erfrischende Idee. Eine statische Kamera, sehr nahe. Es hat nichts abgelenkt." Eine technische Kritik hat er: "Es war zu dunkel, zu schummrig und fast anmaßend: Der Stuhl der ORF-Moderatorin war immer etwas schräger und damit offener zur Kamera gerichtet als die Politiker, von denen man vor allem die Schulter im Bild hatte."

Wie also haben sich die fünf Parteivorsitzenden im "Sprechzimmer 23" aus (körper-)sprachlicher Sicht geschlagen? Lesen Sie nachfolgend die einzelnen Körpersprache-Analysen von Stefan Verra.

Susanne Schnabl und Beate Meinl-Reisinger.
Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger eröffnete den Gesprächsreigen.
APA/GEORG HOCHMUTH

Die Vielfältige: Beate Meinl-Reisinger (Neos)

Schon in den ersten Sekunden fliegen Beate Meinl-Reisingers Hände durch die Luft. Ihre Gesten sind recht kräftig und haben viel Spannung. Das verleiht ihrer Wirkung Kraft und Klarheit, aber auch eine gewisse Grobheit. Sie lächelt viel. Genauer: Sie findet mehr Gründe, ein Lächelgesicht zu zeigen, als ihre Mitbewerber und zeigt damit besonders schnell eine Reaktion auf das, was um sie geschieht. Das wirkt temperamentvoll. Dass sie den Kopf gern nach vorn schiebt und weit vor ihrem Gesicht gestikuliert, vermittelt Enthusiasmus. Manchen zu viel, aber insgesamt zeigt es, dass sie für ihre Sache brennt. Das triggert vor allem die Menschen, die finden, dass sich endlich etwas ändern muss.

Kritisch könnte man bei diesen Szenen denken, ihr fehlt die Ruhe für ein hohes Amt – da kommt ihre tiefe Stimme mit der Stabilität ihrer Körperhaltung zum Tragen. Sie sitzt fast immer asymmetrisch, was ihr Gelassenheit verleiht. So sitzt nur, wer sich nicht ständig im Verteidigungsmodus sieht. Sie ist sich ihrer Sache sicher. Damit deckt sie sehr viel ab und zeigt mehr Vielfalt als alle anderen Parteichefs.

Kanzlereignung: 8/10

ORF-Moderatorin Susanne Schnabl und SPÖ-Vorsitzender Andreas Babler im
ORF-Sommergespräch Nummer vier.
Für SPÖ-Chef Andreas Babler war es eine TV-Premiere.
APA/HELMUT FOHRINGER

Der Praktiker: Andreas Babler (SPÖ)

Andreas Babler macht rhetorisch viel richtig. Er spricht viel in Praxisbeispielen und ist sehr geschickt, unangenehme Themen umzulenken. Er definiert von Beginn an, dass er einer vom Volk ist (burgenländische Pendlerfamilie). Sein Dialekt wird ihm als Marketingtool viel nützen. Er schließt damit aber auch Wähler aus, nämlich jene, die nach Erhabenheit suchen, und die, die die Dominanz des Ostens mit Argusaugen beobachten. Zu sehr ist sein Auftritt ostösterreichisch geprägt.

Auf der großen Bühne hat er gezeigt, wie sehr er Menschen mitreißen kann. Hier ist davon nichts zu sehen, die Worte kommen recht langsam, fast ein wenig energielos. Körpersprachlich sitzt er sehr zurückgelehnt, zeigt wenige, kleine Gesten, einige Nervositätssignale.

Wenn man davon ausgeht, dass er auch in Hochdeutsch sprechen kann, hat er in Traiskirchen bewiesen, dass er Menschen mit unterschiedlichen emotionalen Bedürfnissen antriggern kann. Er muss aber deutlich mehr Aufbruchsstimmung vermitteln. Vielleicht ein paar Videos von Meinl-Reisinger reinziehen.

Kanzlereignung: 7/10

Susanne Schnabl und Herbert Kickl.
ORF-Sommergespräch Nummer drei
FPÖ-Chef Herbert Kickl wähnte sich im "Stasi-Verhörzimmer".
APA/ROLAND SCHLAGER

Der Dominante: Herbert Kickl (FPÖ)

Herbert Kickl bringt nach nur zweieinhalb Minuten das erste Fallbeispiel, wo andere noch in Zahlen und Prozenten reden. Rhetorisch zeigt er Dominanz, indem er die Moderatorin korrigiert und mit Namen anspricht. Das macht der Lehrer oder Chef, nicht der Untergebene. In seiner Marketingrhetorik ist er äußerst geschickt und bringt immer wieder Mehrheitsthemen: Befragt zu Gastarbeitern, webt er die notwendige Entrümpelung der Lehrpläne ein, und schon nicken viele Nicht-FPÖler.

Etwas, das er besser macht als alle anderen: Er hat Sinn für Humor. Viele Aussagen haben etwas Keckes, Freches. Das gefällt vielen, die "denen da oben" abgehobene Sprache vorwerfen. Gepaart ist das bei ihm mit einer eigentlich kanzlerwürdigen Körpersprache: sehr ruhig, zurückgelehnt, asymmetrisch, die Gesten sehr zurückhaltend. Das wirkt wenig aggressiv. Seine Rhetorik aber ist zu sehr auf Protest und Gegnerschaft ausgelegt. Kickl polarisiert stark, was nicht heißt, dass er nicht Kanzler werden könnte. Die Frage ist: Wird er auch Kanzler bleiben? Wer so viel polarisiert, ruft viel Protest hervor.

Kanzlereignung: 5/10

Susanne Schnabl und Karl Nehammer
ORF-Sommergespräch Nummer fünf
ÖVP-Chef Karl Nehammer spürte Geschichte im Raum.
APA/GEORG HOCHMUTH

Der Strenge: Karl Nehammer (ÖVP)

Schon in den ersten Sekunden spricht Karl Nehammer von Versorgungslücken, Kinderaltersgruppen, 4,5 Milliarden. Damit schalten viele geistig schon ab. Kickl hätte das wohl am Beispiel einer Alleinerzieherin erzählt. Das zieht sich durch. Der Kanzler spricht da eher wie ein Beamter eines Ministeriums. Die Kinderbetreuungsthematik erklärt er an Zahlen, Altersgruppen und Budgets. Da müsste er ein klar vorstellbares Bild durch Beispiele zeichnen.

Seine Gesten sind recht monoton, meist Handkanten vor der Brust, kleine und kleinste Bewegungen, ein recht konstant kleines Nicken. Wenn er, wie beim Klimaschutz, strauchelt, wandern die Gesten auf Kopfhöhe. Da täte ihm gut, was Meinl-Reisinger und Kickl machen: inhaltlich eine Ebene höher gehen. Ein Kanzler muss die Emotionen vieler Österreicherinnen und Österreicher antriggern.

Was er kann, ist eine strenge, rigide Körpersprache. Die hat er als Innenminister gut ausspielen können. Aber was ist mit denen, die Leichtigkeit oder Vision suchen? Dafür ist sein Verhalten zu eindimensional.

Kanzlereignung: 5/10

Susanne Schnabl und Werner Kogler
Grünen-Chef Werner Kogler war schon als Abgeordneter im Kammerl.
APA/EVA MANHART

Der Erklärer: Werner Kogler (Grüne)

Werner Kogler sitzt die ganze Zeit an der Stuhlkante, streng symmetrisch. Er pendelt dabei immer wieder nach vorn und lächelt gern dabei. Das wirkt abwartend, wenig initiativ und auch wenig entspannt. Positiv ist, dass er damit wenig aggressiv wirkt.

Seine Bewegungen sind oft etwas hölzern, er gestikuliert viel ins Leere, dann unterstützen die Gesten nicht die Worte. Er spricht inhaltlich zu komplex, auch öfter, ohne sein Gegenüber anzusehen. Richtig in Fahrt kommt er, wenn er simple Dinge erklärt: Klage gegen eine Bank, weil sie Zinssenkungen nicht weitergegeben hat. Sein rhetorischer Trick: sachlich fundiert, an Praxisbeispielen erklärt, mit einem klaren Feind. Er bietet einen Kontrapunkt. Da ist wenig Gelassenes und Erhabenes. Aber dieses Nichtperfekte ist genau das, was viele Menschen emotional bindet.

Inhaltlich firm, aber was Kogler fehlt, ist schlicht die Vielfalt in der Wirkung. Dieses etwas Unelegante triggert eine zu kleine Zielgruppe. Neben dem Unperfekten ist als Kanzler auch mal Eleganz, Staatstragendes und Erhabenes wichtig.

Kanzlereignung: 3/10

(Lisa Nimmervoll, 6.9.2023)