Proteste in Saqqez, Iranerin ohne Kopftuch auf Auto vor Menschenmassen
Mitte September wurde Mahsa Aminis kurdische Heimatstadt Saqqez zum ersten großen Zentrum der Proteste.
APA/AFP/UGC/-

Der Tag sollte dem Gedenken an Mahsa Amini – "Jina", wie sie als Kurdin gerufen werden wollte – gehören, der jungen Frau, die am 16. September vor einem Jahr in einem Krankenhaus in Teheran starb. Die Sittenpolizei, immer bereit, aufmüpfige Bürgerinnen der Islamischen Republik zu züchtigen, hatte sie wegen eines nicht ihr ganzes Haar verdeckenden Kopftuchs verschleppt und mutmaßlich misshandelt.

Fast alle kennen die schreckliche Geschichte und was danach passierte: die Protestwelle, die Teile der iranischen Gesellschaft, die sich über ethnische, religiöse und soziale Grenzen hinweg solidarisierte, auf die Straßen strömen ließ. Und wie das Regime brutal reagierte, mit Verhaftungen, Folter, Hinrichtungen, Verschärfungen der Gesetze.

Aber nicht alle kennen folgende Geschichte: Während bei Regime und Sympathisierenden des Aufstands gleichermaßen, aber aus sehr unterschiedlichen Gründen, die Spannung steigt, ob sich heute Menschen im Iran zu größeren Demonstrationen in den öffentlichen Raum wagen, warten andere auf die Umsetzung "des Deals". Die US-Regierung von Joe Biden hat vor einigen Tagen eine Ausnahmegenehmigung dafür ausgestellt, dass sechs Milliarden Dollar (5,6 Milliarden Euro) an iranischen Geldern, die aufgrund von US-Sanktionen in Südkorea eingefroren waren, nach Katar transferiert werden.

Menschen plus Geld

Von katarischen Banken aus kann der Iran mit diesem Geld dann Zahlungen tätigen, angeblich nur für Zwecke, die der iranischen Bevölkerung zugutekommen. Dafür werden fünf im Iran festgehaltene US-Staatsbürger freigelassen, ebenso wie fünf Iraner, die in den USA inhaftiert sind. Da, wie auf einen Blick festzustellen, bei diesem Deal für Teheran mehr herausschaut – Menschen plus Geld – als für die USA, wird erwartet, dass der Iran auch noch gewisse andere Konzessionen macht. Konkret soll das Atomprogramm, die Anreicherung von Uran bis fast zur Waffenfähigkeit, verlangsamt werden. Inshallah, wie es so schön heißt.

Man vergönnt es jedem einzelnen Amerikaner, der nach Hause zurückkann: In Österreich wissen zwei Familien, was es heißt, ihre Lieben jahrelang im Evin-Gefängnis leiden zu sehen. Erst im Juni kamen zwei österreichisch-iranische Doppelstaatsbürger frei. Auch damals gab es Kritik an den Umständen.

Aber warum wird diese Geschichte hier, wo es allein um Mahsa Amini gehen sollte, erzählt? Weil sie den Teil der Realität darstellt, der für viele Opfer und ihre Unterstützer und Unterstützerinnen im Ausland fast so schwer zu ertragen ist wie die Gewalt gegen Frauen und Andersdenkende im Iran. Das iranische Regime war – soviel man weiß – während des vergangenen Jahres nie akut gefährdet. Danach hat auch "der Westen" seine Politik ausgerichtet.

Nur einzelne Maßnahmen

Es werden keine Gesamtsanktionen gegen das Regime verhängt – von der EU "nur" gegen Gruppen und Individuen, die an der Niederschlagung der Proteste beteiligt waren, auch die USA verhängten am Freitag neue Sanktionen in diesem Zusammenhang –, die Revolutionsgarden werden nicht auf die Terrorliste gesetzt, es werden keine iranischen Diplomaten ausgewiesen und keine Botschaften in Teheran zugesperrt. Daran ändern auch Irans Drohnenlieferungen an Russland nichts.

Es geht nicht nur um Partikularinteressen von Staaten. Außer den Geiselnahmen – wie die Verhaftung von anderen Staatsbürgern auch von der EU offen bezeichnet wird – spielt der Iran auch noch, wie schon erwähnt, auf dem Instrument der nuklearen Erpressung. Das hat uns allerdings, zumindest teilweise, US-Präsident Donald Trump eingebrockt, der 2018 aus dem funktionierenden Atomabkommen ausstieg. Wie auch immer: Keiner will, dass Teheran den Atomwaffensperrvertrag verlässt, wie Nordkorea es 2003 getan hat.

Klassenübergreifende Proteste

Eine militärische Intervention, wie sie sich manche in Israel vorstellen können, will die Region nicht: Saudi-Arabien, das von den USA bearbeitet wird, mit Israel Frieden zu schließen, hat unter chinesischer Vermittlung die Beziehungen zum Iran normalisiert. Wenn Kronprinz Mohammed bin Salman seine kühnen Reformpläne für Saudi-Arabien verwirklichen will, kann er keinen neuen Krieg brauchen.

Zu dieser Realität gehört auch die bevorstehende Aufnahme des Iran, als eines von sechs Ländern, in den Brics-Staatenbund (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Seit Juli ist die Islamische Republik Mitglied der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), ebenfalls mit China und Indien. Um wirklich zu prosperieren, bräuchte Teheran politische und wirtschaftliche Beziehungen zu den USA und zu Europa. Aber international isoliert ist der Iran nicht.

All das soll nicht heißen, dass das Regime gut schlafen kann: Es hat sich etwas geändert im Iran, es gibt eine neue menschenrechtsorientierte Erzählung über die verschiedensten Gruppen hinweg. Selbst unter Religiösen wird der "Zwang", der als Motto über der Islamischen Republik steht, teilweise zurückgewiesen. Unter den Frauen, die gegen das Kopftuch opponieren, sind solche, die es freiwillig tragen. Und Frauen gibt es in allen Gruppen und Klassen, die von Unterdrückung betroffen sind. Sie sind der gemeinsame Nenner, er verbindet alle. "Feministisch" wird die revolutionäre Bewegung deshalb zu Recht genannt.

Angst vor einem anderen Tag

Dem Regime ist es nicht gelungen, den Geist, den es vor einem Jahr selbst befreit hat, wieder zurück in die Flasche zu bringen. Es muss allerdings einen Tag noch viel mehr fürchten als den 16. September, auf den es sich mit Repression vorbereitet hat: den Tag, an dem der religiöse Führer Ali Khamenei das Zeitliche segnet.

Irans religiöser Führer Ali Khamenei ist 84 Jahre alt und krank.
IMAGO/Iranian Supreme Leader'S O

Khamenei ist seit 1989 im Amt – viel länger, als es Revolutionsführer Khomeini (1979–1989) war. Er war immer ein Meister im Moderieren der unterschiedlichen Lager, er zog da an, ließ dort etwas locker. Auch zu Beginn der Proteste sandte er unterschiedliche Signale an die Beteiligten aus: Drohungen gegen "Kriminelle" und "Agenten" – die üblichen Verschwörungstheorien – und Versöhnungsangebote an "verirrte" Jugendliche. Die Menschen haben sich nicht auseinanderdividieren lassen. Dass nicht alle dem Druck standhalten und sich manche in die innere Emigration flüchten, wer könnte es ihnen verdenken.

Mögliches Vakuum

Im Regime sind heute zwar nur mehr die Hardliner im Spiel, aber auch innerhalb dieses Sektors gibt es eine starke Konkurrenz. Bei einer Führungskrise, einem drohenden Vakuum nach dem Tod Khameneis könnte sich schnell einer gegen den anderen wenden.

Frustrierend ist, dass potenzielle Führungsfiguren in der iranischen Diaspora sich bis heute nicht zusammengerauft haben. Mit viel Fanfare wurde im Frühjahr die Gründung einer oppositionellen Dachorganisation verkündet, der "Allianz für Demokratie und Freiheit im Iran". Sie vereinte bekannte Personen wie den Sohn des letzten Schahs, Reza Pahlavi, die Aktivistin Masih Alinejad, Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi und andere. Sie zerbrach schon nach Wochen. "Die Opposition erwies sich als brüchiger als das Regime", schrieb die teilnehmende Schauspielerin Nazanin Boniadi. Aber die Geschichte ist nicht vorbei. (Gudrun Harrer, 16.9.2023)