Mädchen auf Schaukel
Mitterndorf in Niederösterreich und Polling in Tirol sind Österreichs Gemeinden mit dem stärksten Zuzug. Vieles wird hier richtig gemacht – aber das bringt auch Probleme.
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Für zwei Drittel der Österreicherinnen und Österreicher ist das Einfamilienhaus die ideale Wohnform. Das ist das Ergebnis zahlreicher Studien. Selbst junge Leute streben danach, wie die Ö3-Jugendstudie kürzlich ergab. 92 Prozent der Befragten aus der Generation Z sagten dort aus, einmal in einer Eigentumswohnung oder einem Einfamilienhaus leben zu wollen.

Ruhe, nette Nachbarn, ein bisschen Grün – so stellt man sich das Leben im Haus auf dem Land vor. Und man ist dafür auch bereit, längere Anfahrtswege in die Arbeit und eine schlechtere Versorgung mit Geschäften in Kauf zu nehmen.

Teurer Traum

Sich den Traum erfüllen zu können wird in Zeiten von Inflation und steigenden Zinssätzen immer schwieriger. In den vergangenen zwanzig Jahren wurde in Österreich aber gebaut, was das Zeug hält. Österreich ist im EU-Vergleich im Spitzenfeld beim Bodenverbrauch. Die Rufe nach einer Bodenstrategie werden immer lauter. Doch die Bundesregierung konnte sich vor dem Sommer nicht auf eine Obergrenze des täglichen Verbrauchs einigen. Während die Grünen auf 2,5 Hektar pro Tag drängen, sind für die ÖVP noch zu viele Fragen offen, die derzeit in einer Arbeitsgruppe geklärt werden. Ein Ergebnis wurde noch im heurigen Jahr versprochen.

Wohin zieht es die meisten? Welche Ortschaften boomen? Ein Ranking der Gemeinden mit dem größten Bevölkerungswachstum zwischen 2003 und 2023 zeigt, dass an der Spitze Mitterndorf an der Fischa in Niederösterreich im Speckgürtel um Wien liegt. Das Dorf hat sich in diesem Zeitraum nahezu verdoppelt. Dahinter Kittsee im Burgenland, das unweit der Grenze zur Slowakei und der Hauptstadt Bratislava liegt. Platz drei belegt Polling in Tirol, das mit Innsbruck ebenfalls nahe einer großen Stadt zu finden ist.

DER STANDARD nimmt Mitterndorf und Polling näher unter die Lupe. Nicht nur die Nähe zu Ballungszentren eint die Ortschaften. Beide haben ein aktives Dorfleben und ziehen viele Jungfamilien an. Ähnlich sind aber auch die Probleme, die sich durch den Zuzug ergeben. Denn es ist nicht alles eitel Wonne. In Mitterndorf an der Fischa gibt es keinen Bahnhof, und das Lebensmittelgeschäft hat zugesperrt, in Polling – wo seit 2004 die Kinderbetreuung sukzessive ausgebaut wurde – wird mittlerweile der Platz in Kindergarten und Volksschule knapp.

Mitterndorf an der Fischa

Das Lebensmittelgeschäft hat zugesperrt. Schon der dritte Pächter in Folge ist in die Insolvenz geschlittert. Seit Anfang des Jahres steht die Adeg-Filiale in Mitterndorf an der Fischa in Niederösterreich nun leer. Und sie wird auch weiterhin ohne Pächter bleiben, ist Bürgermeister Thomas Jechne überzeugt. Er wirkt nicht frustriert, wenn er das sagt, sondern eher realistisch. Er glaubt nicht, dass sich der Laden wieder rentieren wird. Die Einwohner seiner Gemeinde fahren mit dem Auto zu den großen Supermärkten der Umgebung. Die meisten sind Pendler und kommen ohnehin an Billa, Hofer oder Spar vorbei. Weder bei den Preisen noch beim Sortiment könne der kleine Adeg da mithalten.

Das Lebensmittelgeschäft in Mitterndorf steht leer. Bürgermeister Thomas Jechne (SPÖ) hat einen Selbstbedienungsladen für seine Gemeinde organisiert.
© Christian Fischer

Jechne, 38 Jahre alt, Sozialdemokrat und geborener Mitterndorfer, steht auf dem leeren Parkplatz des Supermarkts und wälzt Ideen. Er würde das Gebäude gerne kaufen, er habe sich mit dem Eigentümer aber noch nicht einigen können. Eine weitere Kinderbetreuungseinrichtung kann er sich darin vorstellen. Nachwuchs gibt es viel in Mitterndorf an der Fischa, sagt Jechne und blinzelt in die Sonne. Im Hintergrund hört man Kinder im Park unweit der Schule spielen.

Verdoppelte Einwohnerzahl

Die Gemeinde im Bezirk Baden in Niederösterreich zählt etwas mehr als 3000 Einwohner. Sie ist 25 Autominuten von der Bundeshauptstadt Wien entfernt. Ein Hauptplatz mit Gemeindeamt und Kirche, ein Sportplatz, eine Schule und haufenweise Vereine. Mitterndorf wirkt wie eine österreichische Durchschnittsgemeinde. Und doch zeichnet sie etwas aus. Sie führt das Ranking der Gemeinden in ganz Österreich an, die in den letzten zwanzig Jahren den größten Zuzug erfahren haben. Die Einwohnerzahl hat sich von rund 1.500 auf mehr als 3.000 verdoppelt. Warum wollen alle nach Mitterndorf?

Um diese Frage zu beantworten, holt Jechne seinen blitzroten Caddy aus der Garage und fährt in den Ortsteil Hofwiese. Hier stand in den Nullerjahren noch kein einziges Haus. Nun reiht sich ein Einfamilienhaus an das nächste. Unter seinem Vorgänger sei hier Bauland gewidmet worden. Die Preise seien damals mit 70 bis 80 Euro pro Quadratmeter noch sehr leistbar gewesen – Bewohner aus den umliegenden Gemeinden und aus Wien zogen nach Mitterndorf, um sich ihren Traum vom Haus mit Garten und Pool zu erfüllen.

Heute ist das nicht mehr möglich, sagt Jechne. Baugründe gibt es am Markt kaum noch. Und wenn, hätten die Preise ordentlich angezogen. Spaziert man durch das Dorf, stößt man auf eine neugebaute Reihenhausanlage, die völlig leer steht. Keiner sei mehr bereit, die Preise, die der Markt vorgibt, zu bezahlen, mutmaßt Jechne. Vereinzelt würden auch Einfamilienhäuser, die mehrere Jahrzehnte auf dem Buckel haben, überteuert inseriert. Käufer finden sich dafür momentan keine.

Bauboom als Mammutaufgabe

"Mitterndorf ist zu schnell gewachsen", sagt Jechne heute, auf den Bauboom der letzten Jahrzehnte angesprochen. Es sei eine Mammutaufgabe gewesen, mit den Infrastrukturmaßnahmen hinterherzukommen. Straßen, Kanalisation, aber auch Kinderbetreuung galt es auf die Beine zu stellen. Jechne ist stolz darauf, schon seit vielen Jahren eine Kleinkindergruppe im Ort zu haben. Dass das Land nun nachziehe und den Fokus auf die Betreuung der Zwei- bis Dreijährigen lege, begrüßt der Bürgermeister.

An diesem Donnerstagvormittag wirkt die Hofwiese ausgestorben. Ab und zu fährt ein Auto vorbei, Jechne nickt den Vorbeifahrenden zu. Er behauptet, alle Mitterndorfer persönlich zu kennen. Vom Thomas reden die Bewohner hier, wenn man sich nach dem Bürgermeister erkundigt. Am Wochenende besucht er sämtliche Veranstaltungen in der Gemeinde – sei es die Summer-Closing-Party des Sportvereins, das Pflanzenfest im kommunalen Obstgarten oder der Dirndlgwandsonntag des Dorferneuerungsvereins. Seine Kinder gehen in den Kindergarten, seine Frau unterrichtet in der Volksschule einer umliegenden Gemeinde.

Schlechte Öffi-Anbindung

Fußgänger oder Radfahrer sieht man nicht in der Häusersiedlung. Kein Wunder: Hier ist man aufs Auto angewiesen. Der Bahnhof ist stillgelegt. Will man öffentlich nach Wien fahren, muss man zuerst ins benachbarte Gramatneusiedl kommen, von wo aus die Züge mehrmals pro Stunde Richtung Bundeshauptstadt fahren. Die meisten steigen für den Weg nach Gramatneusiedl in den Pkw, denn der Bus fährt nur unregelmäßig. Ein Sammeltaxi muss rechtzeitig geordert werden.

Im neuen Containershop können Artikel des täglichen Bedarfs erworben werden.
© Christian Fischer

Belebter als die Hofwiese ist der Dorfplatz im Zentrum. Am kleinen Marktstand vor der Kirche wird Gemüse verkauft, im Gastgarten des Café Trentino sind die Tische gut besetzt. Doch Jechne verkündet die nächste Hiobsbotschaft: Schon bald hört auch die Pächterin des Kaffeehauses auf. Der Bürgermeister ist dabei, jemand Neuen zu finden, der das Lokal im Gemeindebesitz betreiben will.

In Sachen Lebensmittelnahversorgung ist die Ortschaft mittlerweile auf ein anderes Konzept umgestiegen. Einen neuen Pächter für den Adeg gibt es ja nicht. Jechne hat seinen nächsten Termin schräg gegenüber vom Dorfplatz. Hier hat die Gemeinde ein Grundstück erworben, auf dem ein sogenannter Kastl-Greissler errichtet wird. Es handelt sich um einen mit Holz verkleideten Container, in dem Produkte des täglichen Bedarfs bargeldlos erworben werden können. Der Schwerpunkt liegt auf regionalen Produkten, aber auch Waschmittel, Klopapier oder Zahnpasta soll man kaufen können.

Neben dem Selbstbedienungsladen befindet sich ein Bankomat.
© Christian Fischer

Die Container werden mithilfe eines Krans aufgestellt. Dieses Wochenende wird der Shop, der ohne Kassapersonal auskommt, eröffnet. Man schaffe dadurch vor allem für die älteren Bewohner, die kein Auto haben, eine Möglichkeit, Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen, ist Jechne überzeugt.

Bodenversiegelung einbremsen

Dass Mitterndorf in Zukunft gar nicht mehr wächst, ist übrigens nicht das, was Jechne will. Nur soll es kontrollierter ablaufen als in der Vergangenheit. Bodenversiegelung sieht auch er kritisch. Weitere Flächen umzuwidmen könne nicht das Ziel sein. Viel mehr gehe es darum, gewidmetes Bauland auch wieder verfügbar zu machen. In der momentanen Marktsituation würden viele ihre Grundstücke nicht verkaufen – selbst wenn sie selbst keinen Bedarf haben.

Polling in Tirol

Etwas über 500 Kilometer weiter westlich, in Tirol, liegt die Gemeinde Polling. Auch dieser Ort verzeichnete in den vergangenen Jahren einen bemerkenswerten Bevölkerungsanstieg. Die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner nahm in den vergangenen zehn Jahren um rund 44 Prozent zu. 2013 lebten 952 Menschen in der rund 30 Autominuten von Innsbruck entfernten Ortschaft, heute sind es 1367. Keine Gemeinde im Bundesland wuchs stärker.

Auch die Bürgermeisterin Gabriele Rothbacher zog einst von Innsbruck hierher, in dieses beschauliche Dörfchen, das sich im Schatten imposanter Gebirgsketten in das sanft-hügelige Inntal schmiegt. Die Grundstückspreise seien für sie und ihre junge Familie damals, 1992, erschwinglicher gewesen, der Ort sei außerdem öffentlich gut angebunden.

DER STANDARD trifft Rothbacher zum Spaziergang durch ihren Heimatort. Die Wolken hängen tief, es riecht nach nassem Asphalt. Die Sonnenblumen, die auf den Wiesen nahe der Ortseinfahrt blühen, lassen ihre schweren Köpfe hängen. Es ist ruhig im Ort, abgesehen vom leichten Rauschen der Inntalautobahn.

Die wenigen Menschen, die unterwegs sind, grüßen freundlich. Rothbacher kennt die meisten beim Namen, kann sogar den streunenden Hund – "Eigentlich herrscht hier Leinenpflicht, dort oben ist schließlich der Kinderspielplatz" – zuordnen. Forschen Schrittes marschiert sie durch die Gemeinde, der sie seit 2020 als Bürgermeisterin vorsteht, vorbei an gepflegten Einfamilienhäusern mit bunten Balkonblumen und Dreirädern im Eingangsbereich.

In Polling wohnen die meisten im Eigentum, viele junge Familien verschlägt es hierher. Knapp 100 Kinder besuchten heuer den Kindergarten, erzählt Rothbacher, 33 seien nun eingeschult worden – so viele, dass die Klasse geteilt und ein neuer Raum vorbereitet werden musste.

Kinderbetreuung im Fokus

Fragt man Rothbacher, was Polling so lebenswert macht, fällt ihr vieles ein. Ein Aspekt steht für sie aber im Zentrum: "Wir waren Vorreiter bei der Kinderbetreuung", sagt Rothbacher. Ihr Vorgänger und politischer Ziehvater, Gottlieb Jäger, habe hierfür den Grundstein gelegt. Bereits 2004 habe man mit dem kontinuierlichen Ausbau begonnen. Als Rothbacher, selbst Mutter zweier mittlerweile erwachsener Söhne, 1998 in den Gemeinderat eingezogen war, war sie die erste Frau in der Pollinger Kommunalpolitik. Ihre Ideen und Forderungen habe Jäger aber immer ernst genommen, betont sie. Heute ist Rothbacher übrigens eine von nur 20 Bürgermeisterinnen in Tirol, wo es 277 Gemeinden gibt.

Gabriele Rothbacher ist 1992 von Innsbruck nach Polling gezogen – wegen der niedrigeren Grundstückspreise. Seit 2020 ist sie Bürgermeisterin.
Fabian Mühleder

Mittlerweile ist der Pollinger Kindergarten von 7 bis 14 Uhr geöffnet – was vor allem berufstätigen Eltern zugutekäme. Wer länger als bis 13.00 Uhr bleibt, bekomme ein Mittagessen. Die Nachfrage war groß, Nachbargemeinden seien rasch unter Zugzwang gekommen.

Das großzügige Schulgebäude, in dem auch der Kindergarten beheimatet ist, liegt Mitte August noch im Sommerschlaf, die kleinen Holzsessel sind mit den Beinen nach oben auf den säuberlich aufgereihten Tischen geschlichtet, die Wände sind leer, die Stille wird nur vom Klacken des Wischmobs unterbrochen, mit dem die Reinigungskraft durch die Gänge saust. Im ersten Stock hört man helles Kinderstimmen-Gewirr und das Klappern von Geschirr. Kinderbetreuung wird in Polling auch während der großen Ferien angeboten.

Rothbacher auf einen Spaziergang durch Polling.
Fabian Mühleder

Mehr Raumbedarf, mehr Geld

Natürlich bringt der Zuzug auch Herausforderungen mit sich. Mehr Raumbedarf, mehr Bodenversiegelung, mehr Kosten. Vor allem das Personal falle ins Gewicht, einen Mangel an Arbeitskräften gebe es allerdings nicht, berichtet Rothbacher. Für die jungen Menschen im Ort wolle sie mehr Räume für die Freizeit schaffen, sagt die Bürgermeisterin.

Nur wenige Gehminuten vom Rathaus entfernt, am Ortsrand, liegt ein solcher sozialer Treffpunkt: das Pollinger Vereinshaus. Auch viele Zugroaste, also Zugereiste fänden hier Anschluss, erzählt Rothbacher, die selbst, als Zugereiste, den Chor leitet. Elf Vereine gibt es im Ort, natürlich eine Musikkapelle, Schützen und Jungbauern, aber auch einen Mittelalter- und einen Kultur- und Theaterverein.

Schützen, Ritter und Musikanten

Vom Bürgermeisterinnensessel aus könne sie natürlich einen Beitrag leisten, um Menschen im Ort zu halten, hält Rothbacher fest. So habe sie dafür gesorgt, dass der lokale Nahversorger bestehen bleibe und ein Gasthaus wieder in Betrieb genommen werde. Doch gerade das Sozialleben werde auch von engagierten Pollingern getragen, unterstreicht Rothbacher. Davon gebe es viele.

Melanie Papes, 27 Jahre jung, ist eine davon. Seit ihrem 14. Lebensjahr ist sie bei den Jungbauern dabei, drei Jahre lang war sie Obfrau. Polling sei vor allem für Familien ein attraktives Pflaster, sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD. Außerdem schätze sie die gute Anbindung an nahegelegene Städte wie Innsbruck und Telfs. Erst kürzlich seien die Busverbindungen wieder ausgebaut worden.

In Tirol wird, im Gegensatz zu Niederöstereich, auch in der Verwaltung noch gegendert.
Fabian Mühleder

Viele Zugezogene

Durch das Vereinsleben kämen "die Leute zusammen". Papes: "Bei uns ist immer was los." Die Jungbauern zählen knapp 40 Mitglieder, die Vereinsaktivitäten seien "vielfältig", man lege großen Wert darauf, alle Alterssparten abzudecken. Einnahmen aus dem Jungbauernball und einer großen Disco stecke man etwa in Nikolaus-Hausbesuche oder in das Osterbasteln. Die selbstgemachten Osternester werden dann an Bewohnerinnen und Bewohner über 70 ausgeteilt, erzählt Papes, die in Polling aufgewachsen ist.

Dass Polling rapide wachse, merke man vor allem am Kindergarten und an der Volksschule, befindet Papes. In den vergangenen Jahren seien diese Gebäude immer wieder umgebaut und angepasst worden. Wichtig sei, dass die Zugezogenen "offen fürs Landleben" seien und "Gepflogenheiten akzeptieren und annehmen".

Apropos Akzeptanz: Ihre Handschrift hat Rothbacher auch auf dem Schild hinterlassen, das an der Tür des Vereinshauses auf das Rauchverbot hinweist. "Ihr Bürgermeister", steht da – eigentlich. Sie hat mit wasserfestem Stift dazugeschrieben: "IhrE BürgermeisterIN, LG Gabi". (Maria Retter, Rosa Winkler-Hermaden, 15.9.2023)