Universitäten setzen noch immer auf herkömmlichen Frontalunterricht, statt kreatives Denken zu fördern.
Michael Schick; via www.imago-im

Heutzutage besitzt eine durchschnittliche Volksschulpädagogin mehr Wissen darüber, wie wir lernen, als die meisten Hochschuldozierenden. Das Lehrkonzept der Universitäten basiert noch immer auf Praktiken aus dem 19. Jahrhundert. Herkömmlicher Frontalunterricht und das Sammeln von Wissen, das am Ende eines Semesters abgeprüft wird, bringen wenig Lernerfolg. Ein Hochschulabschluss ist kein Konsum-, sondern ein Prestigegut und ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität. Daher wird dieser selten von Absolventinnen und Absolventen kritisch hinterfragt.

Wie ich schon in einer früheren Kolumne argumentiert habe, befindet sich die Wissenschaft in einem Hamsterrad. Universitäten sind der Tyrannei der Rankings verfallen, und Wissenschafterkarrieren werden anhand ihrer Publikationsraten bewertet. Die internationalen Journalverlage sind die wahren Nutznießer des Systems. Herausragende Spitzenforschung beschränkt sich auf eine kleine Anzahl von Einrichtungen weltweit, zu denen übrigens auch das Ista in Klosterneuburg gehört. Der große Rest produziert wissenschaftlichen Outputs mit wenig Wirkung. Die universitäre Lehre wächst daneben quantitativ, aber nicht unbedingt qualitativ.

Wenn Sie studiert haben, denken Sie bitte kurz an eine Multiple-Choice-Prüfung zurück, am besten an eine, die Sie erfolgreich abgelegt haben. Wahrscheinlich können Sie sich kaum noch an den Stoff erinnern, richtig? Aktives Lernen bedeutet nicht nur, sich kurzfristig Wissen anzueignen, sondern es wirklich zu verstehen und anwenden zu können. Dies erfordert eine kontinuierliche Beteiligung der Lernenden an einem kritischen Denk- und Reflexionsprozess. Das ist sowohl für die Studierenden als auch für die Lehrenden anspruchsvoll und anstrengend.

Vorzeigeuni Minerva

Es gibt bereits ein Praxisbeispiel, das meine Argumente untermauert. Letzte Woche hatten wir den Gründer der internationalen Minerva University, Ben Nelson, in St. Gallen zu Gast. Er stellt das Lernen in den Mittelpunkt und herkömmliche Lehrmethoden auf den Kopf. Minerva verzichtet auf einen physischen Campus (mit Ausnahme der Unterkünfte), da der Unterricht in kleinen Online-Gruppen stattfindet. Es gibt keine herkömmlichen Prüfungen, stattdessen sind die Studierenden kontinuierlich im Unterricht aktiv. Das transdisziplinäre Lehrprogramm ist anspruchsvoller als das von Harvard oder Oxford. Die Lernerfolge an der Minerva, also das, was Absolventinnen und Absolventen einige Jahre nach ihrem Abschluss verstehen und umsetzen, sind messbar besser als jene an Eliteuniversitäten.

Selbst viele Professoren und Professorinnen an traditionellen Universitäten betonen seit längerem die Notwendigkeit von Empathie, Kreativität und systemischem sowie kritischem Denken. Nur dass sich am realen Unterricht weiterhin wenig ändert. Im Zeitalter künstlicher Intelligenz und planetarer Krisen brauchen wir Menschen, die nicht nur linear, sondern vor allem vernetzt denken können. Wollen Universitäten diesen Wandel nur beforschen? Wenn sie diesen auch gestalten wollen, dann müssen wir die Zukunft der Lehre ins Zentrum der Hochschulpolitik rücken! (Philippe Narval, 18.9.2023)