Nuno Maulide
Nuno Maulide ist Chemiker, Professor und Buchautor.
Barbara Mair

Im Jahr 1998 begann Nuno Maulide sein Chemiestudium in Portugal. Zwanzig Jahre später wurde er 2018 zum österreichischen Wissenschafter des Jahres gewählt. Maulide ist Professor an der Universität Wien und forscht am Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sein Spezialgebiet ist die stereoselektive Synthese organischer Verbindungen. Dabei werden Moleküle mit chemischen Verfahren so aufgebaut, dass eine bestimmte Struktur entsteht, was etwa für die Medikamentenherstellung relevant ist.

Abseits der Forschung ist Maulide auch in der Vermittlung von Chemie für ein breiteres Publikum engagiert. Im populärwissenschaftlichen Buch "Die Chemie stimmt!" legte er gemeinsam mit Tanja Traxler seine Forschung allgemeinverständlich dar. Weiters drehte er zahlreiche Erklärvideos über Chemie für ein Laienpublikum, etwa für den ORF oder für den Fachverband Chemische Industrie (FCIO). Auch diese engagierten Outreach-Aktivitäten brachten ihm den Titel Wissenschafter des Jahres 2018 ein.

STANDARD: Sie sind in Portugal aufgewachsen, leben nun aber schon seit vielen Jahren in Wien. Wo fühlen Sie sich wirklich zu Hause?

Maulide: Mit Heimat verbinde ich vor allem Menschen, keine spezifischen Orte. Vor kurzem war ich zum Beispiel in der Heimatstadt meiner Frau in Bosnien-Herzegowina – auch dort habe ich mich ein Stück weit zu Hause gefühlt, obwohl ich zu dieser Stadt bislang keinen persönlichen Bezug hatte. Zu Hause ist für mich dort, wo das Herz wohnt.

STANDARD: Chemikern wird oft nachgesagt, gut kochen zu können. Wenn Sie die Wahl hätten: lieber Wiener Schnitzel oder das portugiesische Nationalgericht Bacalhau?

Maulide: Heute Mittag war ich mit ein paar Kollegen in einem typisch wienerischen Restaurant. Es gab Perlhuhn mit Pastinaken-Püree und Brennnessel-Topfenmus. In Portugal können wir mit Zutaten wie Pastinaken oder Brennnessel wenig anfangen. Ich finde die österreichische Küche aber gerade aufgrund dieser – für mich so außergewöhnlichen – Kombinationen interessant. Allerdings bringt mich die portugiesische Küche immer auf einer emotionalen Ebene zurück in die Heimat, weshalb ich mich im Zweifel wohl für Bacalhau entscheiden würde.

STANDARD: Nach der Schule waren Sie auf dem besten Weg, Konzertpianist zu werden. Warum haben Sie sich doch für Chemie entschieden?

Maulide: Im Alter von 17 Jahren stand für mich fest, dass ich Pianist werden will – gegen den Willen meiner Familie. Meine Eltern haben sich schlichtweg einen sicheren Job für mich gewünscht. Ihnen zuliebe habe ich mich neben der musikalischen Ausbildung an der Musikuniversität für ein Medizinstudium in Lissabon beworben. Um in Portugal Medizin zu studieren, ist jedoch eine bestimmte Abschlussnote erforderlich. Dieser Durchschnitt basiert jedes Jahr auf den Durchschnittsnoten der Bewerber. Bei der Anmeldung müssen daher auch alternative Studienfächer angegeben werden. Da ich bereits in der Schule ein naturwissenschaftliches Interesse entwickelt hatte, schrieb ich alle Naturwissenschaften, die mir in diesem Moment einfielen, auf die Liste. Letztlich verfehlte ich die Aufnahme für das Medizinstudium trotz meines passablen Notendurchschnitts um wenige Kommastellen. Wie es das Schicksal wollte, war Chemie mein – zugegeben willkürlich gewählter – Zweitwunsch.

STANDARD: Wann ist nach dieser zufälligen Wahl Ihre Leidenschaft für Chemie erwacht?

Maulide: Nach ein paar Monaten an der Musikuniversität habe ich realisiert, wie auslaugend es ist, jeden Tag zwischen sechs und acht Stunden Klavier üben zu müssen. Auch die Einsamkeit hat mir zu schaffen gemacht. Rückblickend würde ich es deshalb als riskant bezeichnen, sein liebstes Hobby zum Beruf machen zu wollen – es besteht dabei immer die Gefahr, die Freude daran zu verlieren. Durch den Studienplatz in Chemie habe ich in dieser Situation schließlich ganz pragmatisch gehandelt und gedacht: Wenn das mit der Musik nicht klappt, werde ich eben Chemiker. Spätestens nach dem zweiten Semester – als ich meine erste Vorlesung in organischer Chemie besuchte – habe ich dann das Fach wirklich lieben gelernt. Heute bin ich über meine Entscheidung sehr glücklich. Als professioneller Chemiker und Amateurpianist kann ich stolz behaupten, nun meine beiden Leidenschaften gleichermaßen ausüben zu können, was andersherum wohl kaum möglich gewesen wäre.

STANDARD: Haben Musik und Chemie in Ihren Augen etwas gemeinsam?

Maulide: Ja, es gibt immer wieder Moleküle, die mich an gewisse Musikstücke erinnern. Als wir eine Synthese für Chinin – ein Molekül, das aufgrund seiner fiebersenkenden und antiparasitären Wirkung oft in Arzneimittel verwendet wird – entwickelt haben, musste ich beispielsweise immer an die Barcarolle in Fis-Dur, op. 60 von Chopin denken. Genau wie die Melodie wirkt das Molekül zunächst banal, zeichnet sich aber durch seine vielen kleinen Details aus.

STANDARD: Ihr Spezialgebiet ist die Synthese von stereoselektiven Molekülen. Warum sind diese Moleküle für die Forschung besonders interessant?

Maulide: Viele Moleküle kommen in der Natur in zweierlei Formen vor. Sie verhalten sich zueinander in der Regel wie Bild und Spiegelbild – vergleichbar mit der linken und rechten Hand des Menschen. Trotz dieses vermeintlich kleinen Unterschieds weisen diese Moleküle – in der Forschung Enantiomere genannt – wesentliche Unterschiede in Bezug auf ihre Eigenschaften und Wirkungsweise auf. Carvon kann so zum Beispiel je nach Enantiomer sowohl nach Kümmel als auch nach Kaugummi riechen. Allerdings sind auch weit dramatischere Auswirkungen als ein veränderter Geruch möglich. Daher ist es immer wünschenswert, ein Molekül stereoselektiv – sprich: nur in der gewünschten Form – zu synthetisieren.

Kristalle der Aminosäure Glycin unter einem Mikroskop
Dieses abstrakt anmutende Bild zeigt Kristalle der Aminosäure Glycin. Die Aufnahme entstand mithilfe eines Polarisationsmikroskops. Bei Aminosäuren handelt es sich um Bausteine von Proteinen, die im menschlichen Körper unverzichtbare Aufgaben erfüllen.
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STANDARD: In Ihrem neuesten Paper widmen Sie sich der Herstellung von Aminosäuren. In welchem Bereich des Lebens spielt diese Stoffgruppe eine Rolle, und was hat das mit Stereoselektivität zu tun?

Maulide: Aminosäuren sind der Grundbaustein von Proteinen, also Eiweißen. Sie setzen sich aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff zusammen. Ihre synthetische Herstellung ist allerdings eine Herausforderung: Chemische Bindungen werden bevorzugt zwischen Bausteinen mit entgegengesetzter Polarität geknüpft – Kohlenstoff und Stickstoff weisen jedoch in diesem Kontext denselben Ladungsschwerpunkt auf. Unsere Lösung: eine sogenannte Umlagerungsreaktion. Bei einer derartigen Reaktion bleiben die Atome des Moleküls grundsätzlich gleich, verbinden sich aber neu. Wir haben für diese Reaktion Sulfinamide eingesetzt – eine kommerziell erhältliche schwefelhaltige Stickstoffverbindung. So konnten wir Aminosäuren höchst stereoselektiv herstellen.

STANDARD: Kürzlich haben Sie für Ihre Forschung zum wiederholten Male eine Förderung des Europäischen Forschungsrats bekommen. Was bedeuten Ihnen solche Auszeichnungen?

Maulide: In meinen Augen sollten Auszeichnungen und Preise niemals der Hauptantrieb für Forschung sein. Allerdings sind solche Förderungen eine schöne Anerkennung für die geleistete Arbeit sowie Belohnung für die unzähligen Stunden, die mein Team und ich der Wissenschaft gewidmet haben. Das motiviert für zukünftige Projekte und signalisiert, dass wir auf dem richtigen Weg sind. (Anna Tratter, 1.10.2023)