E.-coli-Bakterien unter dem Mikroskop
E.-coli-Bakterien eröffnen der Forschung ungeahnte Möglichkeiten, wenn es um die Herstellung neuer Materialien geht.
imago images/paulista

Geisterhaft tanzen die grauen Klümpchen umher, kommen einander näher, wackeln wieder auseinander, um sich endlich doch zu unzähligen Clustern zu verbinden und gemeinsam weiterzureisen. Was wie ein Ball der Staubmäuse aussieht, ist in Wirklichkeit die kleinste Schmiede der Welt. "In Schmieden werden die mikroskopischen Eigenschaften von Metallen durch Zyklen von Erhitzen und Abkühlen verändert", erklärt Jérémie Palacci, Physiker am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg.

Vielfältige Disziplin

"Dadurch werden die Atome beweglicher und können etwa Mikrodefekte ausgleichen", führt der Wissenschafter aus. Mit Hammerschlägen und glühender Esse hat Palacci allerdings nichts zu tun, er ist auf weiche Materialien spezialisiert. Von LCD-Flüssigkristallen bis zur Zahnpasta, die Disziplin ist vielfältig – und zukunftsweisend.

Neue weiche Werkstoffe versprechen Anwendungen von der Robotik bis zur Medizin. "Diese weichen Stoffe können wir freilich nicht wie in einer Schmiede behandeln", sagt Palacci im STANDARD-Gespräch. Dennoch arbeitet der Forscher daran, die Prinzipien der Metallurgie ins Reich der weichen Materie zu übersetzen.

Mikroskopische Schmiede

Vielversprechend für dieses Vorhaben sind Gele: Strukturell handelt es sich dabei um komplexe Gerüste, deren Zwischenräume von Wasser oder Gasen gefüllt sind. "Die Anordnung dieser Gerüste bestimmt die mechanischen Eigenschaften des Materials", weiß Palacci. Weltweit sind Fachleute auf der Suche nach Wegen, neue Strukturen zu erzeugen – und damit innovative weiche Materialien. Das führt uns zurück zu den Klümpchen, die unter Palaccis Mikroskop ihren Tanz aufführen.

Diese Cluster bilden sich aus mikrometergroßen klebrigen Kunststoffperlen, die bei ihrem Drift durch eine Flüssigkeit aneinander haften bleiben. Doch was treibt die Kügelchen an? Zunächst könnte man an die berühmte Brownsche Bewegung denken: Die herumflitzenden Wassermoleküle stoßen die viel größeren Perlen an und bauen so mit der Zeit die Cluster auf. Dabei drängt sich wieder der Vergleich mit der Schmiede auf: je heißer das Wasser, also je schneller die Moleküle, desto beweglicher die Perlen – eine Voraussetzung für den Aufbau neuer Gerüste.

Doch die Methode hat einen entscheidenden Nachteil: Es ist völlig zufällig, in welche Muster die Kügelchen gebracht werden, zudem lassen sich die Materialien nicht beliebig hoch erhitzen. Genau hier setzen Palacci und sein Team an: Wie die Gruppe im Fachmagazin Nature Physics berichtet, können Bakterien völlig neue Gerüste errichten.

Exotisches Glasperlenspiel

In ihren Versuchen versetzen die Fachleute die Mikroperlen-Lösung mit unzähligen Colibakterien, die mit den Kunststoffartikeln zusammenstoßen oder Strömungen verursachen. "Die Bakterien pumpen Energie in das System und erhöhen die Mobilität der Kügelchen", sagt Palacci. "Die Perlen wackeln dabei so stark herum, wie es bei einem Bad mit zwei- bis dreitausend Grad Celsius der Fall wäre."

Das bakterielle, aktive Bad simuliert also Temperaturen, die einer Schmiede ebenbürtig sind. Damit aber nicht genug: Die Perlen finden sich in Strukturen zusammen, die sich deutlich von den thermischen Assemblagen unterscheiden. Dieser Effekt war schon bei erstaunlich geringen Bakterienkonzentrationen zu beobachten. Zudem fiel den Forschenden um Palacci eine weitere Besonderheit auf: Alle Cluster rotieren, wobei sie für eine Umdrehung gut zwanzig Minuten brauchen – ein Ball in Zeitlupe.

Auch wenn der Linkswalzer als schicker gilt, drehen sich die Klümpchen allesamt säuberlich im Rechtswalzer – also im Uhrzeigersinn. "Das war völlig unerwartet", sagt Palacci. Woher könnte dieser Drall kommen? Wie den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern bald klar war, sind die Colibakterien für die Drehung verantwortlich.

Ausgezeichnete Forschung

An ihren Zellmembranen befinden sich fadenartige Geißeln, die die Bakterien nutzen, um sich fortzubewegen. Dabei drehen sich diese Flagellen aber nur in Uhrzeigerrichtung, die Bewegung überträgt sich auf die Cluster. Bisher verrichten die bakteriellen Schmiede ihre Arbeit nur in der zweidimensionalen Welt der Objektträger.

Palacci und seine Gruppe arbeiten daher an Methoden, um auch dreidimensionale Gerüste mit aktiven Bädern zu erschaffen. Für diese Forschungen erhielt das Team kürzlich eine renommierte Förderung des europäischen Forschungsrats ERC. Dabei kommt eine Besonderheit der Bakterien zum Einsatz. "Bakterien lassen sich durch Licht beeinflussen: E. coli etwa hört bei Beleuchtung auf zu schwimmen", erklärt Palacci. "Wir können so in einem Material gleichzeitig sehr kalte Regionen sowie Bereiche mit hoher ‚Temperatur‘ erzeugen – und das mit einer mikrometergenauen Auflösung." Eine ausgeklügelte Abfolge von Beleuchtungsmustern könnte auf diesem Weg genutzt werden, um Gerüste nach Wunsch herzustellen – und damit deren mechanische Eigenschaften vorzuprogrammieren.

Im Bereich der weichen Materialien wären die Anwendungsmöglichkeiten dieser Methode wohl ungezählt, zumal Palaccis Ansatz keinerlei Rohstoffe benötigt, die knapp oder schwer zu bekommen sind: Nährlösung, Bakterien und handelsübliche Kolloide reichen aus, um gänzlich neue Gele herzustellen.

Vielversprechende Zukunft

Darüber hinaus sind aber auch Innovationen in den stabileren Bereichen der Materie denkbar, wie Palacci betont: "Wollen wir etwa einen photonischen Kristall herstellen, der mit Licht interagieren soll, müssen dessen Strukturen in der Größenordnung der Lichtwellenlänge sein. Bisher war niemand in der Lage, Systeme mit solcher Präzision zusammenzusetzen."

Für die winzigen bakteriellen Schmiede sind Kristalle nichts als ordentlichere, dichtere Gerüste. Daher kann sich der Physiker des ISTA vorstellen, dass künftig maßgeschneiderte Kristalle mit programmierten Eigenschaften in aktiven Bädern gezüchtet werden – eine Entwicklung, die Österreichs große Quantenoptik-Community wohl aufmerksam verfolgen sollte. (Dorian Schiffer, 29.9.2023)