ChatGPT stellte Anfang des Jahres einen neuen Rekord auf. Nach nur wenigen Tagen erreichte die KI-basierte Webanwendung eine Million Nutzerinnen und Nutzer, zwei Monaten später waren es 100 Millionen. Die Einschätzung, wie künstliche Intelligenz (KI) unsere Arbeitswelt verändern wird, schwankt seitdem in zahlreichen Studien zwischen digitalem Turbo und der großen Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Aber sind tatsächlich Millionen von Stellen durch KI in Gefahr, oder könnte die neue Technologie uns sogar eher entlasten als ersetzen? KI-Expertin Sabine Köszegi gibt Einblicke im Gespräch.

Porträtfoto von KI-Expertin und Wissenschafterin Sabine Köszegi
Dass künstliche Intelligenz objektiver entscheiden könne als ein Mensch, sei ein Irrglaube, sagt Sabine Köszegi. Seit Juli ist die 1970 geborene Wissenschafterin Vorsitzende des Unesco-Fachbeirats für Ethik in der KI.
Luiza Puiu

STANDARD: Künstliche Intelligenz bereitet vielen Beschäftigten Sorgen. Sind diese Ihrer Einschätzung nach gerechtfertigt?

Köszegi: Sagen wir es so: Ich verstehe die Sorgen. Es gibt keinen Arbeitsplatz, dessen Aufgaben oder Anforderungsprofil sich nicht durch neue Technologien verändert hat oder verändern wird. Dennoch wird das Risiko von Automatisierung tendenziell überschätzt. Viele Studien gehen vom Potenzial von neuen Technologien aus, aber das bedeutet nicht, dass Automatisierung auch tatsächlich so umgesetzt wird. Die Frage ist immer, in welchem Ausmaß sich Jobs verändern und inwiefern sich Firmen und der Staat darum bemühen, die Folgen dieser Veränderungen abzufedern.

STANDARD: Auf welche Veränderungen sollten wir uns in der Arbeitswelt einstellen?

Köszegi: In der Regel werden Routineaufgaben durch Technologie automatisiert. Das heißt, es bleibt mehr Zeit für andere Aufgaben. Das Aufgabenspektrum kann vielfältiger werden. Im Anwendungsbereich ist KI mit anderen Programmen und Tools vergleichbar. Auch Computer und das Internet haben die Arbeitswelt komplett verändert. Auch dabei galt: Die Nutzung will erlernt sein, und es braucht bestimmte Kompetenzen. Ebenso werden gänzlich neue Jobs und Berufsfelder entstehen, zum Beispiel Prompt-Engineering. Also die Eingabe gezielter Anfragen an eine KI. Aber auch Berufe, die sich mit der Entwicklung der Tools und Technologien befassen. Der Personalmangel im IT-Bereich ist zwar ohnehin schon riesig, wird aber noch größer werden.

STANDARD: Wird KI unsere Arbeit eher erleichtern, statt uns zu ersetzen?

Köszegi: Das ist immer eine Frage des Designs. KI-Systeme können so gestaltet werden, dass sie die Autonomie einschränken oder dass sie Menschen ermächtigen. Um Fragen wie diese zu klären, müssen Ethikrichtlinien und Regulierungen erarbeitet werden. Nur dann können Potenziale ausgeschöpft und Risiken gemindert werden. Den kompletten Ersatz von Menschen durch KI halte ich außerdem für problematisch, weil wir damit sehr viele Kompetenzen und Entscheidungen aus der Hand geben und Autonomie einbüßen.

STANDARD: Kann ein menschengemachtes System überhaupt objektiv sein?

Köszegi: Ich würde die Frage umdrehen: Können wir von einer Technologie, die von Menschen entwickelt wurde, überhaupt erwarten, dass sie wertfrei ist? Technologien sind immer ein kulturelles Artefakt und damit ein Spiegel unserer Werte und unserer Vorstellungen. Bei Personalentscheidungen versuchen wir beispielsweise, mögliche Verzerrungen bei der Auswahl auszuschließen, sie so fair und objektiv wie möglich zu machen. Und genau so können wir auch KI-Technologien gestalten. Ein Trugschluss, dem jedoch viele Menschen erliegen: Viele glauben, dass eine objektive, neutrale Technologie einem Menschen vorzuziehen ist. Das ist eine Illusion, weil auch KI-Systeme werden von Menschen entwickelt –und sind damit fundamental von den gleichen Problemen geplagt wie wir.

STANDARD: Stellen wir zu hohe Erwartungen an die KI?

Köszegi: Eine KI kann viele Dinge besser als Menschen, zum Beispiel unglaublich große Mengen an Daten verarbeiten, analysieren und daraus Muster erkennen. Statistisch gesehen können die Auswahlentscheidungen einer KI besser sein, als die eines durchschnittlichen oder schlechten Recruiters. Ein erfahrener Recruiter ist aber genauso gut oder sogar besser. Denn Menschen sind gut im Problemlösen, von einzelnen Beobachtungen auf ein Gesamtbild zu schließen. Beides ist wichtig und kann in Kombination die Entscheidungsqualität erhöhen. Unternehmen, die denken, sie könnten sich durch den alleinigen Einsatz von KI viel Geld sparen, werden am Ende Qualität einbüßen und gutes Personal noch schwerer finden. Firmen sollten stattdessen in Technologien investieren, die ihre Mitarbeiter in ihrer Arbeit ergänzen und unterstützen. (Anika Dang, 29.9.2023)