Dutzendschaften von Bergsteigern stiegen am verunglückten Mohammad Hassan vorbei. Für die allermeisten hatte der Gipfel des 8611 Meter hohen Berges Vorrang.
Philip Flämig / ServusTV

Im Fall der Tragödie vom 27. Juli auf dem K2 in Pakistan, die im Tod des pakistanischen Hochträgers Mohammad Hassan in der Schlüsselstelle beim "Flaschenhals" gipfelte, während die Norwegerin Kristin Harila den Rekord für die schnellste Besteigung aller Achttausender fixierte, gibt es neue Erkenntnisse, die den Verdacht auf mangelhafte Hilfeleistung erhärten. In einem Interview mit Bergwelten-Regisseur Franz Fuchs und dem Tiroler Bergsteiger Wilhelm Steindl schildert Hassan Shigri, der Cousin des verunglückten Hochträgers, was während des stundenlangen Todeskampfes seines Verwandten auf dem Achttausender getan beziehungsweise unterlassen wurde. Um dieses Thema dreht sich am Montag auch die Sendung Bergwelten auf Servus TV (ab 20.15 Uhr). Im Anschluss daran diskutieren unter anderem Hans Kammerlander und Sabrina Filzmoser in Sport & Talk.

Die Schande am K2: Bergwelten Spezial | Teaser
▶️▶️ Die Schande am K2: Bergwelten Spezial am Mo 02.10. 20:15 Uhr bei ServusTV & ServusTV On Am 27.07.2023 verliert der Hochträger Muhammad Hassan am K2 den Kampf ums Überleben. Auf der Jagd nach dem Gipfel steigen mehr als 70 Menschen über den Sterbenden hin
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Shigri selbst war unmittelbar am Unfallort, als sein Cousin zwischen 22 und 23 Uhr in rund 8200 Meter Höhe abgestürzt war, nachdem eine Schneewechte weggebrochen war. Hassan hing infolge einige Meter unter der Spur im nahezu senkrechten Gelände fest. Shigri: "Der Gletscher dort ist sehr rutschig und hart wie Glas."

Verzweifelter Überlebenskampf

Verzweifelt habe Hassan versucht, sich aus der misslichen Lage zu befreien, fand aber keinen Halt, stürzte immer wieder ab, verlor seine Sauerstoffmaske und Stirnlampe und hing letztlich kopfüber mit entblößten Beinen im Seil. Zum Hochziehen wäre ein Flaschenzug, wie er etwa bei Spaltenbergungen verwendet wird, hilfreich gewesen. "Wenn wir rechtzeitig einen Flaschenzug gehabt hätten, wäre es vielleicht möglich gewesen, ihn zu retten", sagt Shigri. Aber von der Crew, die für die Anbringung der Fixseile zuständig und mit Hassan weit vor den eigentlichen Gipfelstürmern unterwegs war, hatte laut Shigri niemand ein solches Hilfsmittel dabei. Sie setzten ihre eigentliche Arbeit fort.

Erst Stunden später im Morgengrauen wurde versucht, den um Hilfe flehenden Hassan hochzuziehen. Man scheiterte. Letztlich war es Harilas Fotografen, Gabriel Tarso, zu verdanken, dass Hassan mithilfe eines mitgebrachten Flaschenzugs sowie mit Unterstützung seines Cousins hochgezogen wurde und Sauerstoff aus der Flasche bekam. Da hatte der Verunglückte aber bereits keine Kraft mehr zu sprechen, wie Shigri ausführt.

Hassan Shigri (li.) kümmerte sich um seinen Cousin Mohammad Hassan.
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Während Tarso - von schweren Gewissensbissen gepeinigt - nach einer Stunde weitergehen musste, um seinen Job zu erledigen und Harila auf dem Gipfel zu filmen, blieb Shigri bei seinem Cousin. Dutzende Bergsteigerinnen und Bergsteiger stiegen vorbei, wohl in dem Glauben, dass sich ohnehin jemand kümmere oder dass man mangels alpiner Ausbildung ohnehin nichts tun könne. Letztlich hatte wohl der persönliche Gipfelerfolg für viele Vorrang.

Relativierung durch Harila

Harila, die angeblich keine weiteren einschlägigen Bergtouren mehr plant, schrieb in einer Mail an den STANDARD: "Die Leute, die qualifiziert genug waren, um Hassan zu helfen, machten, was sie konnten." Viele hätten versucht zu helfen. Experten, die auch schon einmal an dieser Stelle gewesen seien, hätten gesagt, dass es unmöglich sei, von dort eine Person hinunterzubringen. Sie verwies auf die Gefahren in dem Bereich und erinnerte an die Katastrophe von 2008, als beim "Flaschenhals" elf Menschen tödlich verunglückt waren, zum Teil, weil sie versucht hatten, anderen zu helfen.

Kristin Harila (hier am Gipfel des Shishapangma) sagte: "Viele hätten versucht zu helfen." Shigri sagte: "Niemand half mir."
AFP/HANDOUT

Ganz anders schildert Shigri die Vorgänge, er habe stundenlang keine Unterstützung erhalten. "Ich bin sehr enttäuscht. Niemand half mir. Alleine hatte ich keine Chance, ich musste weinen." Nachdem Hassan hochgezogen worden war, versuchte Shigri, dessen Hände zu wärmen, und hauchte ihm warme Luft in den Mund. Zwischendurch stieg ein Bergsteiger mit dem Steigeisen auf Shigris Bein und forderte ihn auf, Platz zu machen. Shigri blieb trotz Aufforderungen, weiterzugehen oder abzusteigen, rund zwölf Stunden bis zum Tod seines Cousins am späten Vormittag bei ihm. Sein Leichnam liegt wegen der unwirtlichen Bedingungen auf dem zweithöchsten Berg der Welt nach wie vor an Ort und Stelle und soll erst nächstes Jahr geborgen werden.

Wilhelm Steindl (li) zu Besuch bei Hassan Shigri (re). Erblieb bei seinem Cousin, bis dieser starb.
Servus TV

Um Hassan eventuell retten zu können, hätte es einer möglichst früh eingeleiteten und koordinierten Bergungsaktion mehrerer gut geschulter und routinierter Alpinisten bedurft, zumal sich die Unglücksstelle in einem äußerst steilen und gefährlichen Bereich befindet. Als die erste Gruppe der Gipfelaspiranten dort eintraf, war schon relativ viel Zeit vergangen und Hassan nicht zuletzt auf Grund der lange unbedeckten Beine und wegen fehlenden Flaschensauerstoffs schon in üblem Zustand. Die Sherpas, die vorausstiegen und Fixseile befestigten, hätten aktiv werden müssen. Dann aber hätten auch die rund 70 nachkommenden und hohe Summen in die Besteigung investierenden Bergsteigerinnen und Bergsteiger abbrechen müssen. Auch Harila, die drauf und dran war, einen trotz Verwendung von Flaschensauerstoff grundsätzlich respektablen, wenn auch auf Grund der massiven Sherpa- und Hubschrauber-Unterstützung polarisierenden Rekord (in 92 Tagen auf alle 14 Achttausender) aufzustellen.

Dem Vernehmen nach sollen viele "Bergtouristen" und auch Harila selbst nicht zu den gut ausgebildeten Bergsteigern gehören. Hätte sie aber eine Rettungsaktion initiiert und ihren Gipfelsturm zum Rekord abgeblasen, dann hätte sie für ihr vorbildliches Handeln in einer von egozentrischen Männern und ihren Umgangsformen dominierten Welt ein positives Stück Alpingeschichte geschrieben.

Zur Hilfe verpflichtet

Karrar Haidri, der Generalsekretär des pakistanischen Alpin-Clubs, verwies in einem weiteren Interview mit Servus TV auf die "Deklaration von Kathmandu", wonach man in den Bergen verpflichtet sei zu helfen, wenn sich jemand in Schwierigkeiten befindet. "Aber leider ist im Fall von Hassan nichts passiert. Wir preisen die Nepalesen, aber sie haben nicht versucht, ihn zu retten. Wenn 15 Leute es nicht schaffen, einen fünf Meter abgestürzten Mann zu bergen, dann zeigt das, dass sie alle inkompetent waren." Außerdem seien sie nicht auf die Rettung, sondern auf ihr Ziel, den Gipfel zu erreichen, fokussiert gewesen.

Den insgesamt 19 High Altitude Porters (HAPs), sieben Pakistanis und zwölf Nepalesen, sei kein Summit-Bonus angeboten worden, aber er und sein Cousin wollten unbedingt zum Gipfel, während manche ihrer Kollegen schon weiter unten scheiterten, berichtet Shigri. Das von den Expeditionsfirmen für Ausrüstung zur Verfügung gestellte Geld hatte sein Cousin anderweitig verwendet, er borgte sich alles aus. "Wir sind arme Leute, wir geben das Geld für unsere Kinder, unsere Familien aus."

Eine Schule als Hoffnung

Shigri bedauert, dass er und seine pakistanischen Kollegen die Arbeit auf dem Berg ohne Ausbildung und Training beginnen müssen, weil es schlicht an den Möglichkeiten fehle. Auch darum komme es zu derartigen Unfällen. "Wir sind genauso stark wie Nepalesen, aber wenn es Schwierigkeiten gibt, wissen wir nicht, was zu tun ist. Wenn Nepalesen eine Lawine kommen sehen, legen sie sich hin, Pakistani hingegen bleiben stocksteif stehen. Wir müssen alpine Techniken lernen." Um dies zu ermöglichen, hat Steindl in Pakistan die Gründung einer Bergwelten-Alpinschule für Hochträger in der K2-Provinz Gilgit-Baltistan initiiert.

Der frühere Extrembergsteiger Kammerlander aus Südtirol gibt zu bedenken, dass man sich wohl kaum über einen Gipfelerfolg freuen kann, wenn man einem Schwerverletzten vorbeigegangen ist. "Das ist sehr skrupellos, ich empfinde das eigentlich als Verbrechen. Ich bin auch der Meinung, diese Leute sollten für ihr Tun bestraft werden." Gerlinde Kaltenbrunner hat die Tragödie "sehr berührt", sie bemängelt die fehlende Ausbildung: "Er hatte nicht die Erfahrung, so hoch aufzusteigen."

Bergwelten-Regisseur Franz Fuchs sieht Harila als "Speerspitze der ganzen Partie", sie sei zwar nicht allein schuld, hätte jedoch mit ihren hochqualifizierten Sherpas versuchen müssen, Hassan zu retten. "Jemand, der so präsent ist wie sie mit ihrem Rekordversuch, der übernimmt auch Verantwortung in der Öffentlichkeit. Ihr Tun steht dadurch mehr im Fokus und nun auch mehr in der Kritik. Ich bin überzeugt, dass nicht alles getan wurde, was man hätte tun können." (Thomas Hirner, 2.10.2023)