Wegen der lockeren Atmosphäre und des zugeneigten Publikums in Hallein sei Karl Nehammers Wortwahl und Argumentationskette nicht ganz im "Stil eines Staatsmanns", analysierte der Politikwissenschafter Peter Filzmaier. Doch die Kernaussage des Kanzlers ist des Chefs einer konservativen und rechtsliberalen Partei durchaus würdig.

Bundeskanzler Karl Nehammer steht dazu, dass sich Leistung lohnen müsse, dass Selbstbestimmung und Eigenverantwortung wichtig seien.
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Am Tag nach der Veröffentlichung des Videos wiederholte Nehammer seine Aussagen vom Sommer etwas elaborierter: Er stehe dazu, dass sich Leistung lohnen müsse, dass Selbstbestimmung und Eigenverantwortung wichtig seien. Das sind zentrale Werte der ÖVP, die er verständlicherweise verteidigt.

Doch auf Eigenleistung zu setzen, Selbstverantwortung zu predigen und Menschen auszurichten, dass sie sich einfach ein bisschen mehr anstrengen sollen, war in Österreich schon immer ein wenig verlogen bis unverschämt – etwa, wenn man sich ansieht, welche Korruptionsskandale das Land seit Jahren erschüttern. Im Korruptionsindex von Transparency International ist Österreich 2022 noch weiter nach unten gerutscht. Vor allem innerhalb von Parteien und ihren Vorfeldorganisationen, innerhalb staatlicher Institutionen und ihrer Auftragnehmer herrscht oft ungehemmter Nepotismus. Man schiebt einander Posten, Aufträge und Immobilien zu.

Ideologischen Scheuklappen

Die Biografien vieler junger Politiker und Politikerinnen sind mitunter entlarvend. Seit Schultagen werden sie von einer Partei-Teilorganisation zur nächsten gereicht, gefördert und befördert. Per se ist daran nichts Schlechtes, wenn junge Menschen früh wissen, wohin es im Leben gehen soll. Es ist aber verlogen und unglaubwürdig, vor diesem Hintergrund zu betonen, dass man "alles aus eigener Kraft schaffen kann, wenn man nur will".

Es stimmt, dass alle, die in Österreich leben dürfen, in der Geburtslotterie gewonnen haben. Doch innerhalb der österreichischen Gesellschaft ist die Chancengleichheit noch lange nicht hergestellt. Leistung garantiert weder sozialen Aufstieg noch Wohlstand für alle. Ausschlaggebend ist zumeist der sozioökonomische Hintergrund der Eltern. Schüler und Schülerinnen, deren Eltern niedrigere Schulabschlüsse haben, erbringen oftmals schlechtere Leistungen als in anderen EU-Ländern. Studierende, deren Eltern keine Matura haben, sind an den Universitäten unterrepräsentiert. Wer in Österreich in ärmliche Verhältnisse geboren wird, braucht laut einer OECD-Studie von 2018 fünf Generationen, um sich auch einkommensmäßig zur bürgerlichen Mitte zählen zu dürfen. Kinder reicher Eltern hingegen laufen kaum Gefahr abzurutschen.

Diese Starrheit an beiden Enden der Gesellschaft bedroht die Demokratie und ist auch ein ökonomisches Problem. Armut und soziale Ungleichheiten sind brisante Themen, die nicht in Stammtischmanier und mit ideologischen Scheuklappen verhandelt werden sollten. Wir müssen sie behutsam angehen. Dabei sind Demut, Transparenz, Respekt und Ehrlichkeit vom Kanzler abwärts gefordert. Und dazu muss man auch eingestehen, dass Leistung allein eben nicht ausreicht. (Olivera Stajić, 1.10.2023)