Zwei Kinder in Halloweenkostümen (Skelett und Ritter) laufen über eine Wiese
Jedes fünfte Kind in Österreich erfährt in der Schule einmal Mobbing oder Gewalt. Die Täter zu überführen ist nicht leicht, weil oft die Beweise fehlen.
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Hinweis: Die Autorin berichtet anonym, um die Beteiligten zu schützen.

Eines Tages blieb mein zehnjähriger Sohn – nennen wir ihn Erik – im Bett liegen. Auf Nachfrage meinte er: "Heute geht es nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr, mich zu wappnen." Er war blass, sehr dünn. Seit Wochen hatte er Kopfschmerzen. Nichts machte ihm Freude.

Was war los? Es war der dritte Monat in der neuen Schule, erste Klasse Gymnasium. Die Gruppen in der Klasse formierten sich neu. Da gibt es die Sportlichen mit einem Rädelsführer, der es nicht so mit der feinen Klinge hat. Ein paar Mitläufer, die gerne zu den Coolen gehören wollen. Und dann gibt es ein paar Nerds. Zu denen gehört mein Sohn. Kein besonderer Sportler, muss nicht unbedingt auf Partys gehen. Am liebsten sieht er sich Naturdokus an. Er spielt Schach und kramt in seinen Mathematiksachen herum, seine eigentliche Leidenschaft. Er ist sich selbst genug. Und will keine besondere Aufmerksamkeit. Ein Nerd eben.

Mobbing in der Schule

Was in der Volksschule nie ein Problem war, dürfte in der neuen Klasse anders wahrgenommen worden sein. Denn mit den Wochen wurde er von der Sportlergruppe und ihrem Anführer immer mehr gegängelt. Und bald auch von den Mitläufern. Sobald Erik etwas sagte, wurde er mundtot gemacht, er solle "sein Maul halten". Beim Sport wurde er ausgelacht oder angeschrien. In der Pause sah er keine Möglichkeit mehr, durch die Klasse zu kommen, ohne dass er gerempelt wurde. Hier ein Stoß, damit er hinfiel, dort eine ausgeleerte Schultasche. Erik verbrachte die Freistunden schließlich versteckt unter den Stiegen.

Er verstand nicht, wieso das passierte, denn er ließ doch alle in Ruhe. Jeden Tag hielt er den Atem an, wenn er das Schulgebäude betrat. Erik teilte sich auch niemanden mehr mit, auch nicht mir als Mutter, er ertrug es einfach. Deswegen sprang ihm auch kaum jemand zur Seite. Er hatte schließlich keine Hoffnung mehr, dass sich das ändern würde. Also blieb er im Bett. Das war leider erst der Moment, in dem er mir das ganze Ausmaß seines Alltags mitteilte.

Ich kontaktierte seinen Klassenvorstand und Vertrauenslehrer. Wir hatten unglaubliches Glück, denn der widmete sich umgehend dem Problem. Er kam mit einem möglichen Lösungsweg auf uns zu: dem No-Blame-Approach. Eine Methode, mit der sich eine toxische Gruppendynamik ohne Schuldzuweisung im Sinne des Mobbingopfers ändern kann. Dafür hatte er auch eine Ausbildung gemacht.

Keine Anschuldigungen

Die No-Blame-Approach-Methode wurde Anfang der 90er-Jahre von der Psychologin Barbara Maines und dem Pädagogen George Robinson in England entwickelt. Sie verzichtet trotz oft schwerwiegender Mobbing-Problematiken darauf, die Täter auszumachen und zu bestrafen. Maines und Robinson haben ihre Erfahrungen aus der Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen in die Entwicklung der Methode einfließen lassen. Sie waren der Meinung, Lösungen zu suchen musste über dem Fokus auf die Bestrafung von Tätern stehen. Denn davon hat das Mobbingopfer kaum etwas. Ihre Methode wurde schließlich vom Trainer-Team Heike Blum und Detlef Beck Anfang der 2000er-Jahre weiterentwickelt bzw. von sieben auf drei Handlungsschritte vereinfacht. Erik und ich waren einverstanden, dass der Vertrauenslehrer die No-Blame-Approach-Methode in seiner Klasse anwendet.

Schritt 1 war ein ausführliches Gespräch, nur zwischen ihm und Erik. Ziel war, dass mein Sohn in seinen Worten ohne Zeitdruck alles erzählen konnte, seine Eindrücke, seine Gefühle, seine Gedanken über die "Bösewichte". Und seine Hoffnung, die er vielleicht noch hat. Was denn passieren müsste, damit er sich wohlfühlen konnte.

Ich als Mutter habe kaum etwas Detailliertes über das Gespräch erfahren. Die offizielle Beschreibung dieses Gesprächs sieht vor, dass gar nicht viel über die einzelnen Mobbingvorfälle geredet wird, außer das Kind bringt es auf. Allerdings muss der Lehrer danach genau wissen, wer die Täter sind, um weiter handeln zu können. Meine Wahrnehmung war, dass dieses Gespräch genügt hat, damit es Erik besser ging. Er war nun nicht mehr allein. Jemand Gewichtiger war da, der Einblick in die Klasse hatte und für ihn beobachtete, was so los war. Das hat ihn gestärkt, und er ist auch wieder einigermaßen gefasst in die Schule gegangen.

Schritt 2 war das Gespräch mit der "Unterstützergruppe". Tatsächlich bestand sie in Absprache meines Sohnes aus vier der Mobber und vier Kindern, die ihm gewogen waren. Diese acht Kinder wurden eines Tages aus dem Klassenzimmer gerufen, und zwar so, als ob der Lehrer die Kinder willkürlich ausgesucht hätte. Sie setzten sich mit ihm in einen Raum, ohne Erik. Der Lehrer sagte ihnen, er brauche ihre Hilfe. Es wäre ihm aufgefallen, dass sich mein Sohn nicht wohlfühle in der Klasse. Und er bat sie um Vorschläge, wie man das wohl ändern konnte. Sie wussten nicht, dass Erik eingeweiht war. Das verschob die Dynamik. Sie konnten sich so als Helfer- und Helferinnenexperten fühlen.

Auch hier erfuhr ich keine Einzelheiten, kann aber berichten, dass sich die Situation von einem Tag auf den anderen verändert hat. Und zwar positiv. Die Freunde meines Sohnes teilten mit ihm ihre Jause, überredeten ihn, auch wenn er zögerte, mit ihnen etwas zu unternehmen. Sie verteidigten ihn, wenn jemand nicht freundlich war. Und die "Bösewichte" hatten die Gelegenheit, sich zu überlegen, welche Auswirkungen ihre Aktionen auf Erik hatten. Ohne dass ihnen Vorwürfe gemacht wurden. Sie hielten also einigermaßen still, einer entschuldigte sich sogar einmal bei ihm. Alle Aktionen zugunsten von Erik haben sich die Kinder selber ausgedacht.

Schritt 3 waren dann die Nachgespräche. Der Vertrauenslehrer knapste sich seine kostbare Zeit ab, um mit jedem einzelnen Kind aus der "Unterstützergruppe" und auch mit Erik zu sprechen. Er fragte nach, wie sich aus ihrer Sicht die Situation entwickelt hatte. Das war sehr aufwendig. Doch damit fühlten sich alle beteiligten Kinder in einer gewissen Verantwortung für das Geschehen. Und damit war es nachhaltiger. Und ich kann sagen, dass es funktioniert hat.

Hohe Erfolgsquote

Die Gruppe der "Bösewichte" kratzt ihn nicht mehr so. Manchmal im Sport kocht es noch hoch, wenn der Ehrgeiz mit ihnen durchgeht. Damit kann er umgehen, er klappt die Ohren einfach zu. Erik vergisst nicht, was war. Er verteidigt tapfer andere Kinder, wenn sie Rassismen oder sonstigem Mobbing ausgesetzt sind. Das war seine allergrößte Lehre daraus. Niemand darf wegschauen. Und er hat den bereichernden Prozess erleben dürfen, das etwas ganz Unangenehmes wieder in Ordnung kommen kann.

2008 wurde die Anwendung des No-Blame-Approachs evaluiert. In 87 Prozent der Anwendungsfälle (gesamt 220 Mobbingfälle) konnte das Mobbing unter Schülern erfolgreich gestoppt werden. Es geht nicht immer gut, und manchmal wird die Situation nach anfänglicher Besserung wieder düster. Aber in unserem Fall ist es aufgegangen. Jedes fünfte Kind macht während seiner Schullaufbahn Mobbingerfahrungen. Ihnen wünsche ich, dass viele Pädagoginnen sich die Zeit für ein No-Blame-Approach-Seminar nehmen. Das kann die eine oder andere kleine Welt retten. (red, 9.10.2023)