Rauchwolken nach den israelischen Angriffen über dem Gaza-Streifen
Rauchwolken über dem Gazastreifen nach den israelischen Angriffen.
APA/AFP/JACK GUEZ

Auch Tage später ist jeder Augenzeugenbericht, jedes noch so kurze Video der von der Hamas verübten Massaker ein Schock, der einen sprachlos zurücklässt. Auch wenn die Geschichte zeigt – und dafür muss man gar nicht so weit zurückblicken –, dass die Menschheit zu unvorstellbaren Gräueltaten fähig ist, lassen einen die Blutbäder in Israel kurzzeitig am Guten in unserer Spezies zweifeln.

Wenn dann Benjamin Netanjahu eine Reaktion ankündigt, die den ganzen Nahen Osten verändern wird, dann ist das sein gutes Recht. Mit den Angriffen vom Wochenende will die Hamas eine Kette von Ereignissen auslösen, an deren Ende die Auslöschung des Staates Israel stehen soll. Das gilt es mit allen Mitteln zu verhindern. Oder?

Die internationale Staatengemeinschaft, oder zumindest ein überwiegender Teil, bekennt sich mit den Angegriffenen solidarisch. Es gibt Beileidsbekundungen, Unterstützungsleistungen in Form diverser Lieferungen – und es gilt, den Aggressor zu bestrafen, um ihm tatsächlich zu schaden oder um zumindest ein Zeichen zu setzen.

Beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine setzt der Westen vor allem auf wirtschaftliche Sanktionen, um Moskau zum Stopp seiner Aggression zu bewegen. Bei der Hamas ist das nicht möglich, da man keinen Handel mit ihr treibt. Stattdessen setzt man auf einen anderen Hebel. Österreich und Deutschland haben bereits angekündigt, die Entwicklungszusammenarbeit auf Eis zu legen.

Stopp der EU-Zahlungen

Auch die EU hat am Montag einen Stopp aller Zahlungen angekündigt, genauer gesagt Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi. Kurz darauf musste die EU-Kommission zumindest in Sachen humanitäre Hilfe zurückrudern. Einige Länder hatten die nicht mit ihnen abgestimmte Entscheidung kritisiert. Am Dienstag diskutierten dann die EU-Außenminister bei einem Treffen heftig darüber.

Das zeigt, wie heikel diese Form der Sanktion ist. Einerseits kommen die Zahlungen der regierenden Hamas zugute. Wenn die Gelder nicht schon direkt bei ihr landen, so stützen und stabilisieren sie indirekt deren Herrschaft, indem sie die Not der Bevölkerung mindern. Auf der anderen Seite trifft es viele Unschuldige. Denn so, wie in Russland nicht alle Wladimir Putin unterstützen, sympathisieren auch im Gazastreifen nicht alle mit der Hamas. Ganz im Gegenteil sind sie es oft, die am meisten unter ihrem Regime zu leiden haben. Und es trifft noch dazu auch die Palästinenser im Westjordanland, die mit alldem nicht direkt etwas zu tun haben.

Das ist ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gibt. Sicher ist aber eines: Aufgrund der – von der Uno kritisierten – Totalblockade des Gazastreifens durch Israel werden bald noch mehr Fotos von leidenden Palästinensern um die Welt gehen. Das wird zum Teil Propaganda der Hamas sein, aber dass die meisten Menschen dort unter prekären Bedingungen leben, ist ein Fakt. Die Blockade wird alles deutlich verschlimmern.

Dann – und darauf setzt die Hamas auch – wird die internationale Solidarität mit Israel schrumpfen und gleichzeitig die Unterstützung für die Palästinenser zunehmen. Und dann wird man sich in Wien, in Berlin und in Brüssel angesichts des öffentlichen Drucks wieder die Frage stellen müssen: Zahlen wir oder zahlen wir nicht an die Palästinenser? Und das Dilemma beginnt von neuem. (Kim Son Hoang, 10.10.2023)