Menschen fliehen aus Gaza
Mit Auto, Kutsche oder einfach zu Fuß: Menschen auf der Flucht aus Gaza-Stadt.
APA/AFP/MAHMUD HAMS

Seit der vollständigen Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen 2007 versuchen verschiedene israelische Regierungen, meist geführt von Benjamin Netanjahu, die Terrororganisation in Schach zu halten, ohne selbst das so dicht bevölkerte Gebiet zu besetzen. Die Armee beschoss mutmaßliche Hamas-Stellungen und drang mehrmals in den Küstenstreifen ein, um jene Tunnel zu zerstören, durch die Kämpfer nach Israel eindringen können. Dabei wurden stets nicht nur Terroristen getötet, sondern auch zahlreiche Zivilisten, was weltweit für Proteste sorgte.

Aus israelischer Sicht trug die Hamas die Verantwortung für diese Opfer, weil sie israelische Ortschaften mit Raketen angriff und ihre Militärbasen bewusst inmitten der Zivilbevölkerung setzte. Aber Israel ging nie aufs Ganze, zog sich stets wieder zurück und suchte eine stille Koexistenz mit einer Organisation, die die Vernichtung des Staates zum Ziel hat.

Diese Strategie wurde am vergangenen Samstag in einem Blutbad ertränkt, wie es Israel bis dahin nie erlebt hatte. Und offenbar sind dessen Regierung und Armee diesmal entschlossen, die Hamas nicht nur einzudämmen, sondern zu vernichten und damit diese Bedrohung ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen.

Aber das stellt Israel vor ein gewaltiges Dilemma: Die militärischen Schritte, die dafür notwendig wären, verursachen viel mehr zivile Opfer als frühere Gaza-Kampagnen. Israel müsste nicht nur das humanitäre Völkerrecht verletzen, an das es als Uno-Mitglied und Rechtsstaat gebunden ist, sondern auch eigene moralische Standards.

Humanitäre Krise

Zwar wird nichts, was Israel im Gazastreifen tut, mit den gezielten Gräueltaten der Hamas vor einer Woche gleichzusetzen sein. Aber schon jetzt sind mehr palästinensische Zivilisten durch israelische Bomben gestorben als je zuvor. Die Totalblockade sorgt für eine humanitäre Krise, die sich weiter verschärfen wird. Und das Ultimatum, mit dem Israel 1,1 Millionen Menschen zum Verlassen des Nordens auffordert, ist in der kurzen Frist kaum durchführbar; eine Massenflucht würde unsägliches Leid mit sich bringen. Da Uno und Hamas die Forderung zurückweisen, ist damit zu rechnen, dass die meisten Menschen bleiben werden und Israel bei der erwarteten Bodenoffensive keine Rücksicht mehr auf ihr Überleben nimmt.

Das Ultimatum lässt vermuten, dass Israel eine Art ethnischer Säuberung anstrebt, um freie Hand für sein Militär zu erhalten. Die Palästinenser könnten am ehesten nach Ägypten fliehen, das sie aber nicht haben will – auch weil Israel sie vielleicht nicht zurücklassen würde.

Durch die berechtigte Empörung über die Hamas-Massaker gehen in Israel gewisse moralische Hemmungen verloren. Die militärische Logik ist klar: Ohne direkte Kontrolle des Gazastreifens wird sich die Hamas wieder festsetzen, aber eine Dauerbesetzung mit einer feindlichen Millionenbevölkerung in engen Häuserschluchten wäre ein Albtraum für die Armee. Doch was soll aus diesem Gaza werden? Ein Schutthaufen mit Zeltstädten? Eine unbewohnte Wüste mit Platz für neue jüdische Siedlungen? Kann das ein demokratischer Staat anstreben?

Israel dürfte selbst nicht wissen, wie es das Gaza-Problem lösen soll. Aber es ist zu hoffen, dass seine Führung einen Grundsatz befolgt: Selbst das größte Verbrechen am eigenen Volk rechtfertigt nicht jedes Vorgehen gegen Menschen, die keine Verantwortung dafür tragen. (Eric Frey, 13.10.2023)