Schneewittchen
Die problematisch-hässliche Hexe gehört zum Disney-Märchen dazu wie das Amen im Gebet.
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Am Anfang von Walt Disneys Sprung ins Geschäft mit abendfüllenden Animationsfilmen stand ein zwiespältiger Erfolg. Ende der 1930er-Jahre liebte die ganze Welt Schneewittchen und die sieben Zwerge. Auch die Nazis. Adolf Hitler selbst war Disney-Fan, zu Weihnachten 1937 organisierte ihm Joseph Goebbels eine private Schau von Disney-Cartoons.

An eine Filmrolle von Schneewittchen kam Goebbels dank Roy Disney, der gemeinsam mit seinem ungleich bekannteren Bruder Walt vor 100 Jahren, am 16. Oktober 1923, das Disney Brothers Cartoon Studio gegründet hatte. Und Hitler liebte das Märchen. So sehr, dass er gar die Zwerge nachzeichnete.

Walt Disney, der Patriarch

Für diese kuriose Vorliebe des österreichischen Diktators Deutschlands kann Schneewittchen indes wenig. Oder etwa doch? Man könnte meinen, dass die böse Hexe in der Geschichte mit ihrer Hakennase und dem schwarzen Umhang den antisemitischen Karikaturen der Nazis nicht unähnlich sah. Die Mär von der ausgestoßenen Schönsten im ganzen Land basiert außerdem auf einem deutschen Märchen und trifft mit ihrem melodramatischen Ton den der Ufa-Dramen der Reichsfilmkammer. Offiziell blieben Disney-Streifen in Nazi-Deutschland aber verboten.

Walt Disneys politische Haltung selbst war währenddessen umstritten. Wo ihm die einen Rassismus und eine anfängliche Nähe zum "German-American Volksbund" unterstellten, betonten andere seine Produktionen von Anti-Nazi-Propaganda, die das Animationsstudio nach weiteren Hits wie Dumbo (1941) und Bambi (1942) über die Kriegsjahre rettete. Als Unternehmer galt Disney als Visionär, ebenso als strenger Patriarch, der Streiks als Undankbarkeit auffasste.

Auf die anfängliche "Goldene Ära" und die Kriegszeit folgte Disneys "Silbernes Zeitalter". So wird die letzte Schaffensphase des Gründers bezeichnet, in der Animationsfilmklassiker wie Aschenputtel (1950), 101 Dalmatiner (1961) oder das Dschungelbuch (1967) die Kinder- und Erwachsenenaugen verzauberten.

"Probiers mal mit Gemütlichkeit" stammt von Terry Gilkyson, nicht von den Sherman Brothers, die die Disneyfilme der 1960er vertonten.
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Amerikanische Tugenden

Auch die des jungen Clark Spencer, des derzeitigen Präsidenten der Disney Animation Studios. "Als ich klein war, hatten meine Großeltern ein Kino, und der erste Film, den ich dort sah, war das Dschungelbuch. Bis heute ist das einer meiner Lieblinge", sagt der Produzent, unter dessen Ägide Disneys Animationsfilme wieder bei den Oscars reüssierten, im STANDARD-Gespräch.

Clark Spencer (2.v.l.) gewann für "Encanto" 2022 seinen zweiten Oscar nach "Zootopia". Er ist der derzeitige Präsident der Disney Animation Studios.
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In den 1960ern wurden durch die Sherman Brothers auch Musicalnummern zum fixen Bestandteil des Disney-Universums – bis heute. Balus Song "Probier’s mal mit Gemütlichkeit" stammte zwar von Terry Gilkyson, aber die Sherman-Brüder bestanden darauf, ihn für das Dschungelbuch zu übernehmen.

Dabei war Gemütlichkeit eigentlich gar nicht Walt Disneys Credo. Seine Helden und Heldinnen hatten auffallend oft Talent in amerikanischen Tugenden: Optimismus, Selbstoptimierung und Aufstieg. Sei es durch eine neue Garderobe bei Aschenputtel oder in der Genese des jungen Simba zum Löwenkönig in den 1990ern.

1966 starb der Patriarch, und das Studio kippte bis Ende der 1980er in eine Phase, die von dunkleren Visionen geprägt war. Das verscheuchte das Publikum. Für Kinder der 1990er war das verkraftbar. Die kleine Meerjungfrau, Aladdin, Mulan oder Der König der Löwen enterten damals die Kinoleinwände und Fernsehbildschirme.

Dass viele dieser Filme auch problematische Stereotype aufwiesen, wurde jüngst in der Debatte um die Realverfilmung von Arielle deutlich. Der Ärger so mancher, dass die Meerjungfrau von der Afroamerikanerin Halle Bailey dargestellt wird, offenbarte die kulturpolitischen Gräben, die sich anhand und entlang von Disney-Figuren auftun.

Bye-bye, Stereotype?

Rassistische und sexistische Stereotype begleiten Disney-Figuren seit eh und je. Und so manch eine Frau dürfte sich während des Hypes um die Eisprinzessinnen aus Frozen – Disneys größtem Erfolg der 2000er-Jahre – gefragt haben, ob das Studio nichts gelernt hat aus den Diskussionen rund um Body-Positivity. Die perfekte Wespentaille von Prinzessinnen (und ähnlichen Figuren) wurde erst 2021 gesprengt, als die wunderbare Mirabel aus Encanto über die Leinwände sprang.

Disney Deutschland

Mirabel trug als erste Disney-Heldin eine Brille – ein Fakt, auf den Clark Spencer besonders stolz ist. Von hier, betont Spencer, gebe es kein Zurück: Durch das Anheuern diverserer Regisseure und Regisseurinnen steige automatisch der Abwechslungsreichtum der Geschichten. Die politischen Streitigkeiten rund um Floridas Themenpark Disney World und der Unmut mancher über "woke" Themenfilme scheint ihm vernachlässigbar. "Wir machen Filme für ein globales Publikum", sagt er. Die Reichweite bestimmt die Inhalte.

Aber ist das nun das Ende der Prinzessinnenfilme? Laut Spencer nicht. "Wenn es eine Geschichte ist, die die Welt von heute reflektiert, dann kann eine Prinzessin definitiv Teil davon sein", sagt er.

Trotz Erlösproblemen im Streamingbereich und Personalabbaus scheint der Mediengigant Disney scheint zumindest im Animationsbereich aus seiner Geschichte gelernt zu haben. Happy Birthday! (Valerie Dirk, 16.10.2023)