In einer offenen Streichholzschachtel liegen Streichhölzer durcheinander
Ständig wird irgendwo gezündelt, es scheint keine Phase der Ruhe mehr zu geben. Was tun?
Foto: Getty Images / Carlos Oliveras

Wer dieser Tage auf sein Handy blickt, muss jeden Augenblick damit rechnen, mit dem nächsten Ausbruch brutaler Gewalt in irgendeiner Ecke der Welt konfrontiert zu werden. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine begann eine Welle von Aggressionen, Umstürzen und Konflikten. Allein in den letzten Monaten brach ein blutiger Bürgerkrieg im Sudan aus, eroberte Aserbaidschan das armenisch besiedelte Bergkarabach, versuchten serbische Milizen den Norden des Kosovo zu destabilisieren, häuften sich die militärischen Coups in Afrika, während die Sahelzone von Woche zu Woche mehr in Anarchie versinkt. Der letzte Höhepunkt dieser Kaskade von Gewalt, der terroristische Überfall der Hamas auf den Süden Israels, könnte sich zu einem verheerenden Flächenbrand im Nahen Osten ausweiten.

Jedes einzelne dieser Ereignisse hat seine eigenen Ursachen und historischen Hintergründe. Dennoch gibt es eine Reihe von Faktoren, die die Häufung der Gewalt in letzter Zeit erklären.

"Der machtpolitische Virus erfasste auch mittlere Mächte."

An erster Stelle steht die Rückkehr der Geopolitik. Die Anfang des Jahrhunderts noch verbreitete Hoffnung auf eine auf Demokratie und Recht basierende Weltordnung erwies sich als Illusion. Innen gespalten und außen überfordert verringerten die USA ihre weltpolitische Führungsrolle. Russland schwenkte auf einen auf territoriale Expansion abzielenden Kurs. In China brachte der wirtschaftliche Aufstieg keine ideologische Konvergenz mit dem Westen, sondern im Gegenteil den Anspruch, die Vormacht des Westens zu brechen und zur stärksten Macht Asiens aufzusteigen. Der machtpolitische Virus erfasste auch mittlere Mächte wie Türkei, Iran oder Saudi-Arabien und resultierte in einer Reihe regionaler Hegemonialkämpfe.

Die über Jahrzehnte von der internationalen Gemeinschaft entwickelten Gegenmittel gegen den Einsatz von Gewalt verloren an Wirkung. UN-Sicherheitsrat, Internationaler Strafgerichtshof und das gesamte Regelwerk der friedlichen Streitbeilegung haben der unerbittlichen Dynamik geopolitischer Machtentfaltung wenig entgegenzusetzen. Wirtschaftssanktionen – lange das Lieblingsinstrument des Westens – verlieren an Durchschlagskraft, wenn viele Länder bereit sind, sie zu umgehen.

Abstieg des Westens

Dazu kommt der relative Abstieg des Westens. Die G7 – seine wichtigste Koordinationsplattform – hatte 1989 etwa 70 Prozent des Weltbruttonationaleinkommens (BNP), aber 2023 nur mehr 40 Prozent. Während in den 2000er-Jahren oft ein Anruf des US-Außenministers ausreichte, um eine Krise zu entschärfen, bleiben solche Anrufe heute oft folgenlos. Die Weigerung des Globalen Südens, die Sanktionen gegen Russland mitzutragen, zeigte die massiven Ressentiments, die die frühere Dominanz Europas und der USA hinterlassen hat. Diese Kluft droht sich durch den heutigen Konflikt im Nahen Osten noch zu vertiefen, da der westlichen Solidarität mit Israel verbreitete Unterstützung für die Palästinenser im globalen Süden entgegensteht.

Ein weiterer Faktor liegt auch in der Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Krisen. Unsere individuelle, aber auch kollektive Fähigkeit, mit mehreren parallelen Herausforderungen gleichzeitig zurande zu kommen, ist begrenzt. Immer neue Konflikte verdrängen die bestehenden aus dem Bewusstsein und überfordern die Kapazitäten für brauchbare Antworten. Aufmerksamkeit und Ressourcen werden jeweils von der jüngsten Krise absorbiert und von anderen abgezogen. Dies kommt den Aggressoren zugute und geht zulasten der Opfer.

Gewalt lohnt sich nicht

Die gegenwärtige Entwicklung ist umso tragischer, als eine Anzahl von Studien gezeigt hat, dass es sich bei den letzten 50 Jahren um die friedlichste Periode in der Menschheitsgeschichte handelte. Und in der Tat, die meisten Regierungen in allen Weltregionen wünschen auch heute noch eine Welt, in der Interessengegensätze mit friedlichen Mitteln gelöst werden. Denn nur so sind dauerhafter wirtschaftlicher Fortschritt und die Lösung der großen transnationalen Herausforderungen möglich. Sofern diese Länder konsequent zusammenarbeiten, müssten sie in der Lage sein, die destruktive Dynamik der letzten Monate zu brechen.

Die dringendste Priorität wäre dabei, die Ausweitung des Konflikts im Mittleren Osten zu verhindern und die Unterstützung der Ukraine zu stärken. Der Nachweis, dass sich Gewalt nicht lohnt, ist wohl das wirksamste Mittel, um die Gefahr neuer Übergriffe zu verringern. Längerfristig wird man auch die Instrumente des internationalen Krisenmanagements nachschärfen und ausbauen müssen, um auf weitere Aggressionen besser antworten zu können. Dies wiederum kann nur gelingen, wenn westliche Staaten zu einer neuen Form der gleichberechtigten Partnerschaft mit den Ländern des Globalen Südens finden. Letztlich wird es vom konsequenten Zusammenwirken aller konstruktiven Kräfte abhängen, ob die gegenwärtige Spirale der Gewalt nur einen temporären Rückschlag darstellt oder ob sie ein dauerhaftes Abgleiten in die schon überwunden geglaubte Logik von Aggression und Eroberung bedeutet. (Stefan Lehne, 22.10.2023)