Über die Jahrzehnte entwickelte sich der Nahe Osten zu einem internationalen Krisenherd. Zahlreiche Friedensinitiativen scheiterten. Leidtragend ist bis heute die Zivilbevölkerung.
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Gäbe es Israel nicht, gäbe es auch keine Konflikte in Nahost. Das ist ein weitverbreitetes Narrativ. Aber stimmt es? Obwohl Israel flächenmäßig nicht viel größer als Niederösterreich ist, und Gaza und das Westjordanland zusammen ein Stück weit kleiner als das Land Salzburg sind, haben dieser Fleck Erde und der Streit darum, wer dort leben darf, seit Jahrzehnten massive Auswirkungen. Die Folge sind grobe Zerwürfnisse zwischen Regional- und Weltmächten, Flüchtlingswellen und viel Leid. Einfache Antworten und propagandistische Argumente liefern keine Erklärung dafür. Ein Versuch, diese mit Fakten zu entkräften.

1. ARGUMENT: Die Staatsgründung Israels ist Kern des Problems. Israel entstand auf widerrechtlich angeeignetem Land.

Antwort: Historiker liefern viele mögliche Erklärungen für den Kern des Nahostkonflikts: etwa dass die britische Mandatsmacht, die das Gebiet 1920 bis 1948 kontrollierte, nicht ausreichend Bedingungen für ein friedliches Miteinander zwischen den seit Jahrhunderten dort lebenden mehrheitlich palästinensischen Arabern und Juden (Einwanderern und jenen, die in der Region schon immer ansässig waren) geschaffen hat. Andere sehen schlichtweg einen zionistischen Siegeszug, der für die Palästinenser, die vor 100 Jahren noch rund 90 Prozent auf dem Gebiet ausmachten, zur Katastrophe und nie akzeptiert wurde. Und wieder andere sehen das Versagen bei der palästinensischen Führung.

Tatsache ist, Israel wurde auf britischem Mandatsgebiet nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und zwei Weltkriegen und nicht innerhalb der Grenzen eines palästinensischen Staates gegründet. Schon im 19. Jahrhundert begann die verstärkte jüdische Einwanderung als Reaktion auf den massiven Antisemitismus in Europa. Dieser beflügelte zionistische Ideen insbesondere in Russland und Osteuropa, wonach die jüdische Nation einen Staat brauche. Die internationale Gemeinschaft nahm das zunächst zurückhaltend auf. Denn auch der arabischen Bevölkerung war mit der Neuaufteilung der Einflussbereiche von den Briten Eigenstaatlichkeit in Aussicht gestellt worden. Spätestens nach dem Holocaust schlug das Pendel dann aber zugunsten des zionistischen Staates aus.

1947 verabschiedete die Uno-Vollversammlung die Resolution 181, die einen Teilungsplan vorsah. Es sollte je einen Staat für Juden und Palästinenser geben. Auf dieser Basis wurde Israel 1948 proklamiert. Die arabische Bevölkerung und die Nachbarstaaten lehnten das ab. Der erste Nahostkrieg begann. Viele Palästinenser wurden ohne Aussicht auf Rückkehr oder Integration in Nachbarländern vertrieben. Die Waffenstillstandslinie von 1949 hielt bis zum Sechstagekrieg 1967, in dem Israel auch das Westjordanland und den Gazastreifen eroberte. So entstand ein Dilemma für Israel, das nun auch 1,5 Millionen Palästinenser verwalten musste.

2. ARGUMENT: Die Hamas wehrt sich mit ihrem Terror nur gegen jahrzehntelange Ungerechtigkeiten.

Antwort: Der Massenmord der Hamas vom 7. Oktober wird vielfach als Akt der unvermeidbaren "Verteidigung" gegen die israelischen "Besatzer" dargestellt. Fakt ist, dass das Ziel der Hamas nie eine friedliche Koexistenz war, sondern immer schon die Zerstörung Israels. In ihrer Gründungsurkunde nennt die Hamas die Eroberung Israels und einen islamischen Staat Palästina an dessen Stelle als Ziel. Konkret ist die Rede davon, die Juden zu "bekämpfen" und "zu töten". Das Papier enthält auch die Absage an eine friedliche Kompromisslösung. Insgesamt bedient sich die Gruppe, die seit 2007 den Gazastreifen kontrolliert, der Lüge einer jüdisch-zionistischen Weltverschwörung.

3. ARGUMENT: Die Hamas ist so schlimm wie der IS.

Antwort: Sowohl die Hamas als auch der sogenannte Islamische Staat (IS) sind Terrororganisationen und kämpfen mit grausamen Mitteln für ihre Ziele. Beide massakrieren Zivilisten, verüben Terrorakte und nehmen Geiseln, beide hängen fundamentalistischen Interpretationen des Islam an. Und spätestens seit dem Pogrom vom 7. Oktober haben sie auch demonstrative Grausamkeit und Gewalt gemein. Jedoch unterscheiden sie sich in Handeln und Programmatik. So warb der IS mit Verve auf sozialen Medien um Jugendliche aus dem Westen, um diese mit dem Ziel eines möglichst weltumspannenden "Islamischen Staates" für den Kampf in Syrien, im Irak oder in der Sahelzone zu gewinnen. Die Hamas hingegen baut auf nationalistische Ambitionen, ihre Führung sitzt in Katar und ist zu Interviews bereit – und auch für Verhandlungen über Unterhändler. Ebenfalls anders als der IS stellte sich die Hamas 2006 Wahlen.

4. ARGUMENT: Alle Menschen in Gaza unterstützen den Terror der Hamas und hassen Israel.

Antwort: Aus den Wahlen 2006 ging die Hamas als Siegerin hervor. Doch das ist erstens 17 Jahre her und angesichts des Durchschnittsalters der Bevölkerung von 18 Jahren nicht mehr repräsentativ. Dazu hat die Hamas eine Art islamistische Diktatur errichtet. Wie die Meinung der Bevölkerung Gazas zur Hamas tatsächlich aussieht, lässt sich in diesem Klima schwer bewerten. Aufstände gegen die Hamas gibt es nicht. Umfragen deuten auf eine gespaltene Haltung hin: Knapp 60 Prozent geben eine "sehr" und "eher" positive Haltung an, rund 40 Prozent das Gegenteil. Zwiegespalten sind auch die Ansichten zu Israel. 53 Prozent waren im Juni für "bewaffneten Widerstand", 47 Prozent für gewaltlosen. Zugleich waren 62 Prozent für die Beibehaltung des Waffenstillstands.

5. ARGUMENT: Israel blockiert die Zweistaatenlösung und damit den Frieden.

Antwort: Nachdem der ehemalige PLO-Palästinenserführer Jassir Arafat Ende der 1980er-Jahre Israels Existenzrecht anerkannte, wurden bereits etliche vergebliche Anläufe zur Umsetzung einer Zweistaatenlösung unternommen. 1993 kam es nach Geheimverhandlungen zwischen Israel und der PLO-Führung unter Arafat zu mehreren, heute umstrittenen Autonomieabkommen. Der sogenannte Oslo-Friedensprozess wurde in erster Linie von der Hamas mit Terrorangriffen torpediert. Doch es war ein rechtsextremer Israeli, der 1995 Premier Jitzchak Rabin erschoss, der als einer der Oslo-Architekten galt. Die nachfolgende rechtskonservative Likud-Regierung von Premier Benjamin Netanjahu stellte sich dann klar gegen die Abkommen. Im Jahr 2000 erfolgte ein neuer Versuch im US-amerikanischen Camp David: Israels Premier Ehud Barak ging laut Augenzeugen weiter als je ein israelischer Premier und zeigte sich für einen Palästinenserstaat auf einem Großteil der besetzten Palästinensergebiete bereit. Doch für Arafat waren die mündlichen Zusagen, insbesondere rund um den für Palästinenser unabdinglichen Status von Ostjerusalem und die Rückkehrrechte der Flüchtlinge, zu vage. Zu einem Deal kam es nie. Die zweite Intifada begann, der Terror in Israel weitete sich aus – und auch der ununterbrochene israelische Siedlungsbau im Westjordanland.

6. ARGUMENT: Jede Kritik an Israels Regierung wird gleich als Antisemitismus gewertet.

Antwort: Kritik an der Siedlungspolitik, an Netanjahu, an der ihm vorgeworfenen Korruption, an seinen rechtsextremen Koalitionspartnern, an der Justizreform, an der Siedlergewalt im Westjordanland, auch an der Abriegelung Gazas – all das gab es allein in den vergangenen Monaten. Kritik ist also offenkundig möglich, selbst wenn sich Kritiker manchmal vielleicht auch unbegründet mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert sehen. Allerdings ist tatsächlich vieles, was als "Kritik" verpackt wird, schlicht antisemitisch – darunter auch Parolen oder "flotte Sager", die Israel das Existenzrecht absprechen. Natürlich sind nicht alle Pro-Palästina-Demonstranten Antisemiten. Der Antisemitismus fängt dort an, wo man Israelis wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum delegitimiert.

7. ARGUMENT: Israel verstößt mit der Offensive gegen die Hamas gegen Völkerrecht.

Antwort: Das humanitäre Völkerrecht besagt, dass die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen wie Spitäler nicht angegriffen werden dürfen. Israel und die Hamas haben kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und der Mittel ihrer Kriegführung, sondern müssen Verhältnismäßigkeit wahren. Völkerrechtsexperten gehen von Untersuchungen zu möglichen Kriegsverbrechen aus, denen sich wohl auch Israel stellen muss. Allerdings positioniert sich die Hamas bewusst in oder bei zivilen Zielen. Untersuchungen könnte es auch wegen der anfangs verhängten Totalblockade des Gazastreifens geben, die Israel nach Druck der USA wieder gelockert hat.

8. ARGUMENT: Antisemitismus in Europa gibt es vor allem in arabischen Communitys.

Antwort: Florian Wenninger, der auf der Uni Wien das Institut für historische Sozialforschung leitet, nennt die Behauptung, Antisemitismus sei hauptsächlich importiert, "eine Mär". Laut einer Statistik aus Deutschland aus 2021 und 2022, auf die Wenninger auf X verweist, sind die Täter antisemitischer Hasskriminalität fast immer rechts. Die Vorstellung vom importierten Antisemitismus externalisiert also dieses Problem. Es gibt aber auch eine hohe Dunkelziffer.

Laut einer Studie des Parlaments ist der israelbezogene Antisemitismus unter Menschen mit türkischer oder arabischer Sprache aber signifikant weiter verbreitet als in Österreichs Gesamtbevölkerung. (Manuela Honsig-Erlenburg, Flora Mory, Manuel Escher, 4.11.2023)