Zeichnung von Schüler:nnen
Ja, in den Schulen gibt es antisemitische Äußerungen, aber auch viel kindliche Hoffnung auf Frieden und unzählige Fragen, die Tiktok nicht beantworten kann.
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Am Ende fehlte etwas im Stimmungsbild aus Post-its, das die Klasse nach dem Massaker der Hamas in Israel erarbeitet hatte. Etwas Entscheidendes. Die Schülerinnen und Schüler in einer Mittelschule in Wels – "Brennpunktschule" mit hohem Migrationsanteil, wenig Kindern mit Deutsch als Muttersprache, die meisten muslimisch – sollten ihre Gedanken zum Krieg in Israel aufschreiben. Still für sich, dann wurde jede Meinung vorgelesen, und es zeigte sich: "Die Pro-Israel-Seite hat in allen drei Klassen gefehlt", erzählt die Lehrerin.

Da standen Sätze wie "Israel hat alles begonnen", "1948 wurde Palästina das erste Mal angegriffen und 75 Jahre unterdrückt" oder "Israel Trash Palästina gewinnt" und "Israel sind Kuffar", also "Ungläubige". Da war aber auch viel kindliches Unverständnis, Entsetzen über tote Kinder in Gaza und Unwissen über das, was passiert: "Wieso machen die den Krieg?", fragten mehrere. "Sie können sich doch vertragen." Andere schilderten den Druck, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. "Ehrlich bin ich auf keiner Seite. Ich will nur, dass der Krieg aufhört." Ein Kind schrieb: "Ich persönlich finde Kriege ganz schlimm. Mein Onkel und meine Oma starben im Krieg, als meine Mutter fünf war. Letztens habe ich vom Krieg geträumt. Warum werden Kriege überhaupt geführt?" Oder mit drei Worten und einem traurigen Emoji: "Krieg ist schlecht."

"Wer glaubt, dass ein mehrstündiger Workshop oder ein Klassengespräch radikalisierte Jugendliche auf die richtige Bahn bringt, der hat keine Ahnung."
Eine Pflichtschullehrerin aus Wien

Ja, Krieg ist schlecht. Aber was ist mit Israel? Die junge Lehrerin, die das vierte Jahr unterrichtet, eines ihrer Fächer ist Geschichte, stellte also die Frage "Was spricht für Israel?". Schwierig bei diesem auch strukturell bedingten, dominierenden Meinungsbild.

Nicht nur im "Brennpunkt"

Problematische Zwischenfälle gibt es aber nicht nur an Schulen mit hohem (muslimischem) Migrationsanteil. Auch im altehrwürdigen Linzer Körnergymnasium, definitiv keine "Brennpunktschule", entdeckte der Schulwart in der Turngarderobe "Palestine"- und "nix Israel"-Schmierereien. Direktorin Wilbirg Binder stellte per Elternbrief klar, "dass solche Aussprüche in unserer Schule keinen Platz haben". Die Schule werde sich damit auseinandersetzen, sie bat aber auch die Eltern, "mit ihren Kindern das Thema zu besprechen". Im STANDARD-Gespräch sagt sie: "Es geht nur mit Aufklärung. Dieser Krieg beschäftigt die Schülerinnen und Schüler natürlich. Aber ansonsten ist es eher ruhig. Wir sind da sicher auch in einer geschützteren Umgebung, weil das in unserer Schule kein Konfliktthema ist." Der Anteil muslimischer Kinder beträgt nur rund zehn Prozent.

Extremismuspräventionsworkshops sollen in Schulen sensibilisieren
Mit eigens angebotenen Extremismuspräventionsworkshops soll künftig in Schulen auf Sensibilisierung und Aufklärung gesetzt werden. Der Startschuss für das in Kooperation von Innen- und Bildungsministerium entstandene Projekt ist am Montag in St. Pölten gefallen. Eine österreichweite Ausrollung mit 300 Einheiten ist im nächsten Jahr geplant. Präventionsbeamte aus dem Polizeibereich werden im Rahmen der Workshops ihr Wissen und ihre Erfahrungen weitergeben.
APA

Frau Lehrerin, pro Israel oder Gaza?

In Wels sah sich die Lehrerin derweil damit konfrontiert, dass ihre Klassen sofort eine klare Positionierung forderten. "Sind Sie pro Israel oder pro Palästina?", erzählt die Pädagogin. Sie versucht, das Schwarz-Weiß-Denken der Kinder aufzubrechen, Kontroverses nach "Beutelsbacher Konsens" (er legt als ein Prinzip für politische Bildung ein Indoktrinationsverbot fest) kontrovers zu diskutieren.

Wenn sie, wie so oft, gefragt wird: "Frau Lehrerin, haben Sie dieses Video auf Tiktok gesehen?", erarbeitet sie mit den Schülerinnen und Schülern Faktenchecks. Sie arbeitet an einer "bewussten Lehrerin-Schüler:innen-Beziehung", mit einer Haltung, die wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe sucht, um so "tatsächlich ein ,Wir‘ in diesen Klassen zu bilden", aber auch klare Standpunkte bezieht. "Es gibt sehr wohl ein paar Kinder, die sofort die Augen verdrehen, wenn ich etwas sage, das nicht ihrer Meinung entspricht." Dieses Alles-oder-nichts zeige sich jedoch nicht nur bei Pubertierenden oft, sie bekämen das auch in der Politik und den Medien zu sehen: "Es wird immer alles in einen Topf geworfen." Die Juden. Die Muslime. Dann besprechen sie, dass in beiden Gruppen nicht alle strenggläubig sind, es auch Säkulare gibt – und viel dazwischen.

Diese Reise mit den Kindern ins "Dazwischen" ist vielleicht die größte Herausforderung, vor der die Schulen jetzt stehen. Vielerorts ist daraus längst Überforderung geworden. Frust macht sich breit.

Wien ist ein härteres Pflaster

Es geht nach Wien. Die Zwei-Millionen-Metropole ist sicher ein härteres Pflaster als städtische Ballungszentren wie Wels, auch wenn dort ein Drittel der Bevölkerung im Ausland geboren wurde. Fragt man in Wien Lehrkräfte, wie sich der eskalierte Nahostkonflikt in den Schulen niederschlägt und welche Rolle der Islam im Alltag spielt, wird es härter, drastischer und auch besorgniserregender. "Der Krieg hat den Topf überlaufen lassen", sagte eine langjährige Mittelschullehrerin dem STANDARD. "Wir Lehrkräfte können derzeit in den Schulen noch meistens dafür sorgen, dass die Platte nicht zu heiß wird."

"Viele Kinder und ihre Familien sind leider nicht wirklich in der Mitte der Gesellschaft bei uns angekommen."
Thomas Bulant,
Vizevorsitzender der Pflichtschullehrergewerkschaft

Noch. Meistens. Reicht das auf Dauer? Auch die heuer pensionierte Pädagogin war wie einige ihrer noch aktiven Kolleginnen nur unter Zusicherung von Anonymität bereit, die Erfahrungen in Wiener "Problembezirken" zu schildern. Sie sagt: "Wenn es jetzt von überall bis zum Bildungsminister heißt: Die Lehrer sollen den Nahostkonflikt passend in den Unterricht einflechten, dann lässt das bei vielen Lehrerinnen und Lehrern die Wut hochsteigen." Eine andere erklärt, warum: "Wer zündet freiwillig die Zündschnur in einer Klasse, die an und für sich schon ein gefülltes Pulverfass ist? In der wir es geschafft haben, teilweise bis zu 20 Nationalitäten, Moslems, Juden, Christen, Atheisten, Buddhisten und Hinduisten zu einem halbwegs friedlichen Miteinander, zumindest in der Schule, zu erziehen – indem man reinkommt und über das Israel-Palästina-Problem redet?"

Der schwierige Themenberg, mit dem sie es täglich zu tun hätten, werde stetig höher: "Wir haben seit über zehn Jahren viele Probleme mit dem radikalen Islam und wurden damit alleingelassen", klagt eine Brennpunktschullehrerin. Ab 2013 die IS-Verherrlichung, 2015 viele männliche, unbegleitete, oft schon radikalisierte, meist "überaltrige" Flüchtlinge. Und man habe "mit Besorgnis beobachtet, wie sich schleichend Intoleranz, Rassismus gegen ,Kuffar‘, die Ungläubigen, Frauenfeindlichkeit, Gewalt mit und ohne Waffen und Mobbing, verstärkt im Zusammenhang mit dem radikalisierten Islam, breitmachen". Das alles plus Corona plus Ukrainekrieg und jetzt Nahost. Das werde vielen langsam, aber sicher zu viel. "Egal, was den Alltag unserer Jugendlichen durcheinanderbringt, ihnen Angst macht oder sie komplett aus der Bahn wirft, egal, mit welchen gesellschaftlichen oder sozialen Problemen sie zu kämpfen haben – die Schule soll das wieder in Ordnung bringen", spricht die Frau den Frust vieler Lehrpersonen, besonders im Pflichtschulbereich, an.

TikTok und arabisches TV

Nachfrage bei Thomas Bulant. Er ist nicht nur Vizevorsitzender der Pflichtschulgewerkschaft, der sozialdemokratische Lehrervertreter unterrichtet selbst auch an mehreren Pädagogischen Hochschulen und kommt dadurch mit vielen Lehrkräften in Kontakt. Was ist los in den Schulen? Welche Folgen zeigen sich dort nach dem Terror der Hamas? Und welche Rolle spielt der Islam dabei? Bulant weiß von einem Fall antijüdischer Hasstiraden auf dem WC einer Favoritner Schule. Er sieht eine "heterogene Situation", die sich immer "dort zuspitzt, wo sich gewisse Gruppen häufen und wo wir kaum Zugriff auf den Konsum sozialer Medien haben". Es gebe Klassen, da sitzen Kinder, die selbst aus Kriegsgebieten geflüchtet sind, mit denen man in direkten Diskurs kommen könne, neben Schülern, meist männlich, "die mit Machogehabe klar zu erkennen geben: ,Na, mit Ihnen red’ ich da sicher nicht drüber‘" oder die "sehr plumpe antisemitische Äußerungen, die sie zu Hause, auf der Straße oder bei arabischen TV-Sendern gehört haben, einfach nachplappern".

Und das alles sollen die Lehrkräfte aufräumen und zurechtrücken? "Die große Politik hat es nicht geschafft, den Nahostkonflikt zu rationalisieren, nationalistische Stereotype und religiöse Verirrungen aufzulösen – und das sollen wir jetzt in der Schule schaffen?", fragt auch Bulant. Mit Antiradikalisierungsworkshops und ein paar Beamten des Verfassungsschutzes an der Seite? "So funktioniert ja Arbeit mit Schülern nicht. Ein punktuelles Projekt und dann ist alles okay. Solche Prozesse brauche viel Zeit, oft Jahre." Im Übrigen sei Antisemitismus "nicht nur ein Problem im muslimischen Bereich". Kontrollgehabe im Namen des rechtgläubigen Islams aber schon: "Das gibt es sehr wohl, dass Druck ausgeübt wird, auch gegenüber jemandem, der anders denkt. Man muss leider feststellen, dass viele Kinder oder ihre Familien nicht wirklich in der Mitte der Gesellschaft bei uns angekommen sind", sagt Lehrervertreter Bulant.

Das Leben der anderen

Er sieht in den muslimisch-migrantischen Müttern einen wichtigen Hebel. "Es wäre ganz wichtig, die Frauen in diesen Familien zu stärken und abzuholen." Solange zu viele von ihnen noch immer nicht in der Gesellschaft ankommen (dürfen), weil ihre Männer ihnen verbieten, Deutsch zu lernen, werden auch ihre Kinder das Leben hier und die Werte des Zusammenlebens mit Abstand und auf Distanz erleben. Das Leben der anderen, das man viel leichter ablehnen oder abwerten kann.

Noch viel mehr, wenn man es nicht einmal in der eigenen Klasse sehen kann. Das beeinflusst natürlich Stimmung und Debatten. "Sie sind ja unter sich. Die Kinder, die anders sozialisiert sind, sind ja nicht da. Es gibt niemanden, der eine andere Sichtweise hat", erzählt Susanne Wiesinger. Sie unterrichtet seit 35 Jahren in Wien, derzeit in einer Volksschule. Bekanntheit erlangte sie vor fünf Jahren durch ihr Buch Kulturkampf im Klassenzimmer. Wie der Islam die Schule verändert. Damals war sie noch an einer Mittelschule und schilderte, wie religiöse Gebote und Verbote das Denken ihrer muslimischen Schülerinnen und Schüler beherrschten und wie fremd ihnen die Werte, die ihnen die Schule vermitteln wollte, blieben. Nach Terrorattacken waren, so schrieb Wiesinger, die Sympathien für die Attentäter stärker als das Mitleid mit den Opfern. Aktueller Anlass: das Hamas-Pogrom.

"Wir" sind wir alle

Was davon kommt bei ihren Schülerinnen und Schülern – 100 Prozent migrantisch, circa 80 Prozent muslimisch – an? "Keine Gewalteskalation", erzählt Wiesinger, dafür fehlen ja auch die "Gegner". Nicht nur wegen des Alters der Kinder laufe vieles unbewusst ab. Etwa die Zurechtweisung "Du darfst das nicht essen!", weil etwas "haram" sei, also für Angehörige des Islam verboten. Auch Susanne Wiesinger wünscht sich, nein, fordert viel mehr Ressourcen für die Schulen, um robust gegensteuern zu können, aber auch "strikte Regeln, Pflichten und Strafen", insbesondere auch für Eltern, die den liberalen, demokratischen Lebensentwurf gefährden oder aktiv boykottieren, indem sie etwa nicht Deutsch lernen. Das sei eine Sache des "Wir", betont sie. "Wir, das sind wir alle, das sind diese Kinder auch. Sie wissen nicht, dass es, wenn dieses Gesellschaftsmodell, für das sie kämpfen, gewinnt, am Ende nur Verlierer geben wird. Dann haben wir alle verloren." (Lisa Nimmervoll, 12.11.2023)