Seit 20 Jahren geben Martina und Karl Hohenlohe den Gault&Millau Österreich heraus, hierzulande wohl der bekannteste Restaurantführer. Bewertet werden darin die Köchinnen und Köche sowie ihre Küchenleistung mit Punkten und Hauben, damit wurde der gängige Begriff "Haubenlokal" geprägt. Wobei die Qualitätsspanne hier groß ist: Ab 19 von maximal möglichen 20 Punkten darf sich ein Lokal mit fünf Hauben schmücken. Für eine hingegen reichen elf Punkte. Damit kann auch ein sehr gutes Wirtshaus ausgezeichnet werden. Am 14. November wurde der neue Gault&Millau 2024 in Wien präsentiert, wir sprachen mit Martina Hohenlohe über Österreichs Gastronomie, eine mögliche Wiederkehr des Guide Michelin und Kinder im Restaurant.

Karl und Martina Hohenlohe, Herausgeber des Gault&Millau Österreich.
Karl und Martina Hohenlohe sind Herausgeber des Gault&Millau Österreich. Daneben veranstalten sie einmal jährlich die Gault&Millau-Genussmesse.
Foto: Philipp Lipiarski

STANDARD: In einer Diskussionsrunde für eine RONDO-Ausgabe vor elf Jahren waren Sie sich mit unserem Restaurantkritiker Severin Corti einig, dass es in der heimischen Spitzengastronomie im Vergleich zu Skandinavien viel zu steif, ja "überkandidelt" zugehe, das Essen sei oft – mit nur wenigen Ausnahmen – ein "formelhaftes, fades Nachkochen des Immergleichen". Wie sehen Sie das heute?

Hohenlohe: Da hat sich viel getan, diese große Oper, das gespreizte Ambiente, das man früher mit Haubengastronomie verbunden hat, ist meiner Meinung nach Geschichte. Ich war heuer in einem Vierhaubenlokal, in dem am Nachbartisch Leute mit Bermudas und Flipflops saßen. Das ist gut und richtig so, ein Menü soll Spaß machen und ein Gesamterlebnis sein. Durch mehr Lockerheit werden mehr Menschen angesprochen, das ist ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor.

STANDARD: Erwartet man nicht etwas Besonderes, wenn man schon bereit ist, eine höhere Summe fürs Essen auszugeben?

Hohenlohe: Natürlich, aber das wird für mich durch einen schön gedeckten Tisch erfüllt. Ich wäre wahrscheinlich irritiert, wenn ich im Vierhaubenrestaurant Papierservietten bekommen würde. Aber Gault&Millau bewertet ausschließlich die Küche, theoretisch wäre es möglich, in einer Strandhütte Fünf-Hauben-Essen zu bekommen. Ist mir aber noch nie passiert.

STANDARD: Und wie hat sich die Küche entwickelt?

Hohenlohe: Nun, ich war damals oft international unterwegs und habe in heimischen Lokalen tatsächlich häufig, nennen wir es mal "Zitate" entdeckt. Heute ist das anders, die Topgastronomie entwickelte viel Selbstbewusstsein mit eigenständigen Kreationen und Innovationen, sie besitzt international eine andere Strahlkraft als vor elf Jahren. Die österreichischen Köche erwarten sich ja einiges davon, dass der Michelin zurückkehrt, damit sich das noch steigert.

STANDARD: Was hat sich sonst verändert oder ist aktuell als Trend erkennbar?

Hohenlohe: Beispielsweise das alkoholfreie Getränkeangebot, da geht es schon lange nicht mehr nur um ein "Obi gespritzt". Es ist toll, was sich hier entwickelt hat, es wird experimentiert mit fermentierten Essenzen, mit Tees, das macht Spaß.

STANDARD: Das ist aber auf die Spitzengastronomie beschränkt.

Hohenlohe: Ja, die Experimente, aber selbst im Wirtshausbereich werden vermehrt eigene Säfte und Sirupe angeboten. Ein weiterer Trend ist ein größeres Angebot an vegetarischen und veganen Speisen.

STANDARD: Berücksichtigen Sie das in der Bewertung?

Hohenlohe: Ja, wenn gar keine Optionen angeboten werden, gibt es Abzüge. Das sind wir nicht nur unseren Lesern, sondern auch unserer Umwelt schuldig. Man muss heute auf jedem Niveau zumindest vegetarisch kochen können beziehungsweise etwas anbieten.

Menschen auf der Bühne bei der Präsentation des Restaurantsführers Gault&Millau 2024.
Die Gault&Millau-Präsentation am 14. November, bei der zwei neue Fünfhaubenköche, Andreas Döllerer und Juan Amador, ausgezeichnet wurden.
Foto: Kevin Recher

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Der Guide Michelin, der berühmteste und wichtigste internationale Restaurantführer, hatte sich nach einem nur kurzen Gastspiel in den Jahren 2005 bis 2009 wegen zu geringer Nachfrage aus Österreich zurückgezogen. Lediglich Restaurants in Salzburg und Wien hatten seither die Chance, die begehrten Sterne weiterhin zu bekommen, da die beiden Städte im länderübergreifenden Guide "Main Cities of Europe" gelistet werden. Seit Jahren wird jedoch von Gastronomie und Touristikbranche ein eigener Guide gefordert, weil dies neue Zielgruppen an Gästen erschließen würde, die ihre Urlaubsziele auch mit dem Michelin planen.
Viele heimische Toplokale befinden sich in den Bundesländern und haben damit keine Chance auf Sterne. Michelin macht das Ganze aber in kleinen Ländern nicht umsonst: Summen zwischen 500.000 und einer Million Euro werden kolportiert, die von Österreich finanziert werden müssten. Im Tourismusausschuss des Parlaments wurde Anfang Oktober beschlossen, die Verhandlungen mit Michelin möglichst rasch erfolgreich abzuschließen. Die Herausgeber der heimischen Guides sind darüber nicht erfreut und orten eine Ungleichbehandlung.

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STANDARD: Sie sprachen vorhin davon, dass sich die Köche vom Michelin einiges erwarten, gleichzeitig haben Sie gemeinsam mit Falstaff-Herausgeber Wolfgang Rosam die mögliche Förderung kritisiert. Geht es nur ums Geld oder auch um einen Konkurrenten?

Hohenlohe: Ja, selbstverständlich, wir sind schließlich beide Restaurantführer, das wird uns schon wehtun. Aber wir haben keine Angst davor, Gault&Millau ist seit 40 Jahren in Österreich und bekannt. Unsere Emotion geht jedoch hoch, wenn es um die Frage der Finanzierung des Michelin geht. Wir haben 15 Angestellte, zahlen Steuern und bekommen vom Staat null Unterstützung. Wir haben es oft versucht, beispielsweise bei der damaligen Landwirtschaftsministerin Köstinger. Wir stellten so viele Konzepte vor, das wurde nie erhört, und nun kommt das milliardenschwere Unternehmen Michelin und soll mit Steuergeldern finanziert werden. Es ist auch eine Frage der Wertschätzung: Wir haben viel weitergebracht in der Gastronomie oder auch mit der Gault&Millau-Genussmesse, wo ein völlig neues Publikum niederschwellig erschlossen wird.

STANDARD: Könnte die Zurückhaltung bei den Förderungen auch daran liegen, dass Spitzengastronomie hier anders bewertet wird als beispielsweise in Frankreich?

Hohenlohe: Ja natürlich, in Österreich traut man sich als Politiker kaum zu sagen, dass man in einem Fünf-Hauben-Lokal essen war. Nur sollte es auch zur österreichischen Politik durchgedrungen sein, dass wir nicht nur die Avantgarde bedienen, der Großteil der Lokale ist für ein breites Publikum.

STANDARD: Sehen Sie Chancen, dass es für Sie Förderungen gibt, wenn der Michelin Geld erhält?

Hohenlohe: Wir werden darum kämpfen, mit allem, was uns möglich ist.

STANDARD: Ihr neuer Guide ist 900 Seiten schwer, zusätzlich gibt es einen Hotel-, einen Wein- und sogar einen Almhüttenguide. Wie lange rechnen sich Printprodukte noch?

Hohenlohe: Momentan haben wir treue Stammleser, die uns kaufen, die Jungen jedoch haben ein völlig anderes Leseverhalten. Unser 2022 gelaunchtes Magazin Martina mussten wir wieder einstellen, es war wirtschaftlich nicht stemmbar. Aber der Guide ist ein Jahresprodukt und finanziert sich gut. Solange es geht, wird er gedruckt erscheinen, wir sind altmodisch, auch wenn wir online sukzessive ausbauen.

STANDARD: Wie gerechtfertigt ist ein Restaurantguide, egal ob gedruckt oder online, überhaupt noch in Zeiten von Online-Bewertungen bei Tripadvisor?

Hohenlohe: Ich bin dort schon so oft auf die Nase gefallen, dass ich nicht mehr nachsehe. Bei uns weiß man, was Bewertungen bedeuten.

Eine Speise von Andreas Döllerer, der mit einer fünften Haube ausgezeichnet wurde.
Joerg Lehmann

STANDARD: Haubenlokale haben fälschlicherweise den Ruf, dass man dort nicht satt werde. Nun gibt es immer mehr Lokale, die nur mehr ein Menü mit einer fixen Anzahl an Gängen anbieten, was eine Herausforderung darstellen kann. Wie stehen Sie dazu?

Hohenlohe: Ich bin kein Fan davon. Wissen Sie, wie oft ich schon im Restaurant gesessen bin und dachte: "Ich kann nicht mehr, wenn jetzt noch etwas kommt, dann sterbe ich." Man behält Essen viel besser in Erinnerung, wenn man sich auf den nächsten Gang freuen kann. Das individuelle Fassungsvermögen ist sehr unterschiedlich, und daher sollte man sich die Anzahl der Gänge aussuchen können. Doch als Wirt kann man nun einmal mehr für ein Acht-Gänge-Menü verlangen als für drei Gänge à la carte.

STANDARD: Ist das klug?

Hohenlohe: À la longue kommen die Gäste womöglich nicht mehr, wenn sie sich nach dem Menü körperlich nicht wohl fühlen oder gestresst sind, wenn Essen weggeworfen werden muss, weil sie nicht aufessen können.

STANDARD: Wie gehen Sie als Mutter mit dem Thema Kinder im Restaurant um? Gerade hat ein New Yorker Restaurant für Aufregung gesorgt, weil Eltern für ungezogene Kinder Strafe zahlen sollen.

Hohenlohe: Das ist furchtbar! Eltern müssen selbst entscheiden, ob sie Kinder ins Lokal mitnehmen möchten, und es ist auch eine Preisfrage. Für mich persönlich macht es keinen Sinn, meine Vierjährige ins Steirereck mitzunehmen. Das wäre ein bisschen "Perlen vor die Säue ...". Sie ist völlig zufrieden mit einem Teller Nudeln, den ich ihr zu Hause hinstelle. Die beiden Größeren habe ich mit damals zehn und elf Jahren ins Steirereck mitgenommen, es gab den Saibling in Bienenwachs (ein Signature Dish von Steirereck-Chef Heinz Reitbauer, Anm.), davon träumen sie bis heute. Aber es ist ein schwieriges Thema: Wenn meine Kleine im Restaurant laut ist, hat niemand etwas davon, es stresst mich, die anderen Gäste erwarten einen schönen Abend und haben ein Recht darauf, in Ruhe zu essen. Aber Strafen sind völlig überzogen.

STANDARD: Was ist denn ein gelungener, schöner Abend für Sie?

Hohenlohe: Ohne Kinder! (lacht) Nein, wir waren gerade in einem Restaurant in Marbella, das war ziemlich perfekt, ein unglaubliches Ambiente, das Servicepersonal hatte genau das richtige Maß an Herzlichkeit und Professionalität, die Köchin stellte sich vor und meinte: "Ich freue mich, dass ich heute für Sie kochen darf. Ich lasse Ihnen jetzt ein paar Sachen bringen." Das Essen wurde in die Mitte des Tisches gestellt, man kostete, redete und entspannte sich. Prinzipiell werde ich gerne überrascht und erlebe Dinge, die ich noch nie zuvor gegessen habe. Und ich möchte Gastlichkeit erleben, kein kühles Ambiente, sondern das Gefühl haben, dass ich willkommen bin. Es ist natürlich subjektiv, und manche sehen das anders; aber für mich spielt das Essen bei Restaurantbesuchen jedenfalls die Hauptrolle. (RONDO, Petra Eder, 19.11.2023)