Männlicher Alpensteinbock
Dem Steinbock als tierischem König der Alpen setzen wärmere Temperaturen nicht nur durch den entstehenden Hitzestress, sondern auch durch neue Erreger zu.
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Ein perfekt abgestimmtes Outfit kann im Tierreich das Um und Auf im Kampf ums Überleben sein. Wer seine Tarnung im Lauf der Jahreszeiten dann noch an das Landschaftsbild anpassen kann, sollte gewonnen haben. Doch weit gefehlt. 21 Säugetier- und Vogelarten weltweit passen ihr Fell oder Federkleid saisonal an, darunter Schneehasen und Mauswiesel. Durch den Klimawandel werden die Tage ohne Schneedecke allerdings häufiger. Winterweiße Tiere – so die Fachbezeichnung – sitzen dann für Fressfeinde quasi auf dem Präsentierteller.

In einer im Fachblatt "Science" erschienenen Studie stellten Forschende 2018 fest, dass einige Arten zunehmend auf die weiße Garderobe verzichten. Hermeline im Süden der USA oder Schneehasen in Irland bleiben gänzlich braun. In manchen Regionen fand zwar ein Farbwechsel statt, die Weißphase fiel aber deutlich kürzer aus. "Beim Schneehasen in den Alpen sehen wir eine Anpassung entlang der Höhenstufen", erklärt der an der Studie beteiligte Klaus Hackländer im Gespräch mit dem STANDARD. Auch tragen Individuen im südlichen Alpenraum weniger lang Weiß als ihre Artgenossen in den Nordalpen.

Vom Klimawandel überholt

"Die Frage ist dennoch, ob die Tiere mit dem Tempo des Klimawandels mithalten können", sagt Hackländer, der an der Wiener Universität für Bodenkultur das Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft leitet und der Deutschen Wildtierstiftung vorsteht. Eine rasche Anpassung wird von großen Populationszahlen und genetischer Diversität begünstigt. Doch die Habitate der Schneehasen auf den höchsten Gipfeln sind zunehmend fragmentiert und wenig vernetzt. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit großer genetischer Durchmischung, aus der nach dem Zufallsprinzip Jungtiere mit anderer und besser abgestimmter Färbung hervorgehen könnten.

Weißer Pelz erschwert das Schneehasenleben auch bei steigenden Durchschnittstemperaturen. Bei eisigem Wind und klirrender Kälte isolieren die weißen, luftgefüllten Haare – in warmen Wintern sorgen sie hingegen für potenziell tödlichen Hitzestress. Die spezialisierten Tiere wandern daher immer höher. Schneereiche und kalte Regionen im Hochgebirge sind für sie ebenso Inseln der Existenz wie für Schneehuhn, Gams und Steinbock. Bieten ihnen höhere Lagen teils noch geeignete Rückzugsorte, werden auch diese zusehends – und schneller als das Flachland – wärmer. Der Flucht nach oben sind existenzbedrohende Grenzen gesetzt.

Schneehase im Winterpelz
Des einen Freud, des anderen Leid: Die Tiere in unseren Wäldern und Bergen kommen mit den Folgen des Klimawandels unterschiedlich gut klar. Für manche bedeutet er mehr Futter, für andere mehr Stress.
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Stress in den Alpen

Zu allem Überfluss wird es am Berg schön langsam eng. Die touristische Nutzung alpiner Räume kann für spezialisierte Tiere im Winter tragisch enden. Müssen sie aufgrund von Störungen durch Menschen fliehen, werden sie die überschüssige Wärme kaum los und erleben wiederum gefährlichen Hitzestress. Das betrifft Schneehasen ebenso wie Steinböcke und Gämsen. Im Winter müsse von menschlicher Seite Rücksicht auf die Kältespezialisten genommen werden, sagt Hackländer. "Sie sind im winterlichen Sparmodus und super an die Gegebenheiten angepasst, aber nicht, wenn sie unter Stress stehen", erläutert der Forscher.

Steinböcke, die mit dichtem Fell und großen Fettreserven für große Kälte gewappnet sind, suchen ebenfalls nach Kühlung. Kurzfristig können sie noch ihr Verhalten anpassen und kühle Nordhänge aufsuchen oder die Nahrungsaufnahme in die Nachtstunden verlegen. Erreicht das Thermometer aber auch im Winter auf 2500 Meter Seehöhe Plusgrade, bedeutet das Stress. Hitze belastet den Stoffwechsel des Steinwilds und schwächt seine Abwehrkräfte.

Gleichzeitig verschiebt der Klimawandel die Verbreitungsgebiete von Krankheitserregern, die bei höheren Temperaturen noch dazu eine längere Überlebensfähigkeit zeigen. Neu im Hochgebirge angekommen ist etwa der Rote Magenwurm, der bereits bei heimischen Steinbockbeständen nachgewiesen werden konnte. Der Parasit schwächt die Tiere und führt im schlimmsten Fall zum Tod der befallenen Exemplare.

Doch die Situation wird noch komplexer, denn die globale Erwärmung beeinflusst auch die Reproduktion von Steinbock und Gämse. Deren Fortpflanzung ist auf die Verfügbarkeit nährstoffreichen Futters abgestimmt. In warmen Jahren gedeihen wichtige Futterpflanzen verfrüht, mit fortschreitender Entwicklung verholzen sie und liefern den Tieren weniger Nährstoffe. Studien zufolge produzieren Gämsen in heißen Sommern weniger Milch, manche Jungtiere haben dann nicht genug Reserven, um durch den Winter zu kommen. Einige Geißen haben schon heute nur noch jedes zweite Jahr ein Kitz.

Ein Schwein hat Schwein

Zu den tierischen Profiteuren des Klimawandels gehört bislang das Wildschwein. "Es scheint mit sich ändernden Temperaturen bisher gut zurechtzukommen", sagt Claudia Bieber zum STANDARD. Erst kürzlich veröffentlichte die Leiterin des Forschungsinstituts für Wildtierkunde und Ökologie der Vetmed-Uni Wien mit weiteren Forschenden eine Studie zur Thermoregulation bei Wildschweinen. "Ihre physiologischen Anpassungen im Bereich der Temperaturregulation sind sehr breit, das ist von Vorteil, wenn es zu Änderungen kommt", erklärt sie. Mit Hitze kommen die aus Südostasien stammenden Paarhufer klar, indem sie sich zum Kühlen suhlen.

Wildschwein
Als Allesfresser sind Wildschweine bei ihrem Futter nicht sonderlich wählerisch. Allround-Talente sind sie scheinbar auch beim Umgang mit einem sich wandelnden Klima.
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Auch harten Wintern trotzen die Tiere problemlos, wenn es ausreichend Futter gibt, zeigt die im Fachblatt "Journal of Comparative Physiology B" publizierte Studie. Höhere Temperaturen im Winter bringen den Allesfressern ebenfalls Vorteile. Sie finden genügend Futter, Bachen können mehr Frischlinge durch den Winter bringen, die ihrerseits gute Reserven aufbauen können.

Mögen einzelne Arten gut mit den klimatischen Veränderungen zurechtkommen, plädiert Bieber dafür, Tierarten nicht nur einzeln zu betrachten. In der Wissenschaft gehe man immer stärker dazu über, in Ökosystemen zu denken. Und diese sind sehr komplex. Sterben einzelne Arten, übernehmen meist konkurrierende Arten die frei werdende Nische. Doch irgendwann seien auch diese ökologischen Nischen nicht mehr besetzt. "Das Problem ist, dass mit zunehmendem Artverlust das Ökosystem immer fragiler und weniger widerstandsfähig wird", erklärt die Forscherin. Als den größten Verlierer sieht sie daher den Menschen selbst, denn: "Wir sägen derzeit an dem Ast, auf dem wir sitzen." (Marlene Erhart, 25.11.2023)