Schon vor dem Interview, das nach einer Podiumsdiskussion an der Uni Wien im Rahmen der von unter anderem dem STANDARD präsentierten Tagung "Migration – Rechtspopulismus – Autoritarismus" des Sir-Peter-Ustinov-Instituts stattfand, hatten seine Pläne für heiße Diskussionen gesorgt. Im Gespräch danach ließ der Migrationsexperte Gerald Knaus dann keinen Zweifel daran, dass er in der Auslagerung von Asylverfahren aus der EU in Drittstaaten eine Möglichkeit erblickt, die Zahl ertrinkender Flüchtlinge im Mittelmeer zu reduzieren – und gleichzeitig einen weiteren Aufstieg der extremen Rechten hintanzuhalten.

Schiff der italienischen Küstenwache mit geretteten Flüchtlingen vor Lampedusa.
Schiff der italienischen Küstenwache mit geretteten Flüchtlingen vor Lampedusa: Was tun, um zu verhindern, dass sich weiterhin Menschen unter Lebensgefahr übers Mittelmeer wagen – und viele ertrinken?
REUTERS/YARA NARDI

STANDARD: Sie schlagen vor, dass Asylverfahren nicht mehr in der EU, sondern außerhalb der europäischen Union abgewickelt werden sollen, etwa in Ruanda im Rahmen eines Pilotprojekts. Wie soll das laufen?

Knaus: Ähnlich wie es in der Türkei nach dem 20. März 2016 gelaufen ist. Die Türkei war in der Ägäis bereit, jeden Ankommenden aus Griechenland zurückzunehmen. Das führte zu einem drastischen Rückgang der Boote. Um deren Zahl schnell zu reduzieren, sollten Asylverfahren Ankommender künftig ab einem Stichtag in sicheren Drittstaaten durchgeführt werden. Im letzten Jahrzehnt sind 28.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Das darf so nicht weitergehen.

STANDARD: Flüchtlinge, die im Mittelmeer auf Booten aufgegriffen werden, würden also nach Ruanda gebracht. Wo und wie sollen sie dort leben?

Knaus: In Hotels und anderen Unterkünften. Das UNHCR bringt in Ruanda schon heute Asylwerber unter und führt ihre Verfahren durch, die es seit 2019 aus Libyen dorthin übersiedelt. Mit britischem Geld hat Ruanda Hotels gemietet und plant, Wohnprojekte zu bauen, um mehr Ankommende unterzubringen. Natürlich muss es auch Zugang zu einem fairen Asylverfahren geben. Wer kein Asyl beantragt, dem wird die freiwillige Rückkehr angeboten. Wer Asyl erhält, bleibt entweder in Ruanda oder wird von einem anderen Staat aufgenommen.

STANDARD: Nach Europa dürfen diese anerkannten Flüchtlinge nicht?

Gerald Knaus bei der lit.Cologne Veranstaltung Moria
Der Migrationsforscher Gerald Knaus vertraut den europäischen Menschenrechtststandards: Ein Flüchtlingsprojekt in einem Drittstaat würde streng geprüft, sagt er.
imago images/Future Image

Knaus: Jedenfalls wird das nicht versprochen. Ziel ist ja, dass weniger Menschen in gefährliche Boote steigen. Das wird hoffentlich rasch geschehen, sodass nur eine kleine Zahl von Menschen nach Ruanda gebracht werden. Europa sollte sich dabei Kanada zum Vorbild nehmen: mehr legale Aufnahme von Flüchtlingen durch Resettlement – in Kanada derzeit 50.000 im Jahr – sowie mehr legale Migration. Wer aber irregulär kommt, wird in einen sicheren Drittstaat gebracht, aus Kanada etwa in die USA.

STANDARD: Was geschieht, wenn die Zahl von Bootsflüchtlingen trotzdem nicht abnimmt?

Knaus: Dann scheitert der Plan. Er kann aber auch schnell erfolgreich sein. Aus Australien wurden 2001 und erneut 2013 alle, die mit Booten kamen, nach Nauru oder Papua-Neuguinea gebracht. Es waren wenige Tausend, dann kam nach kurzer Zeit niemand mehr. 2016 starb auf dem Weg nach Australien kein einziger Mensch, im zentralen Mittelmeer aber 4.600 Menschen. Was ist die moralischere Politik?

STANDARD: Australien wurde für die schlechte Behandlung der Flüchtlinge in Nauru und Papua-Neuguinea scharf kritisiert. Was geschieht, wenn es auch in einem europäischen Asyl-Drittstaatprojekt zu derartigen Zuständen kommt?

Knaus: Auch dann würde der Plan scheitern. Denn dann würden europäische Gerichte diese Transfers verbieten, ja verbieten müssen. Das zeigt das jüngste Urteil des Obersten Gerichts in London. Er hat die Ruanda-Pläne der Tory-Regierung auf Eis legte, weil der Zugang zu einem fairen Asylverfahren in Ruanda noch nicht gegeben ist.

STANDARD: Warum fokussieren derartige Pläne derzeit eigentlich auf Ruanda?

Knaus: Weil Ruanda sich angeboten hat. Und weil das UNHCR in Ruanda seit 2019 Asylverfahren für Menschen aus Libyen durchführt. Das könnte es, wenn Ruanda und EU-Staaten darum bitten würden, auch hier tun. Es geht um die Rettung tausender Leben.

STANDARD: Das UNHCR will das aber nicht. Für Auslagerungspläne, wie Sie sie vorschlagen, stehe man nicht zur Verfügung, wurde mir auf Anfrage gesagt. Auch sei das Libyen-Projekt sehr klein. Es gehe um Leute, die aus den libyschen Foltergefängnissen gerettet wurden.

Knaus: Bis dato waren es 1.700 Menschen. Hier wie da geht es darum, Leid und Sterben zu reduzieren. Das UNHCR hat Menschen auch deswegen aus Libyen nach Ruanda gebracht, weil sie dort sicher sind und das UNHCR dort Asylverfahren durchführen kann. Das passiert also schon. 2011 hat das UNHCR einen Plan, Asylverfahren aller nach Australien Kommenden in Malaysia durchzuführen, öffentlich unterstützt..

STANDARD: Wie ernsthaft wird die Asyl-Drittstaatlösungen in der EU inzwischen diskutiert?

Knaus: Sehr ernsthaft, und nicht nur in Dänemark. Es gibt eine Gruppe von mittlerweile 18 europäischen Staaten, die einander treffen und über solche Ideen diskutieren. Ich traf dazu kürzlich Mitglieder der schwedischen Regierung. In Deutschland haben führende Politiker bei SPD, FDP, Union und der grüne Ministerpräsident Kretschmann sich dafür ausgesprochen, Asylverfahren in sicheren Drittstaaten ernsthaft zu prüfen. Die Bundesregierung und die Bundesländer haben diesen Monat bekräftigt, dass dies getan werden soll.

"Rechtspopulistische Parteien profitieren von der Angst vor Kontrollverlust. Sie setzen rassistische und absurde Verschwörungstheorien vom 'großen Bevölkerungsaustausch' in Umlauf. Sie haben aber auch eine Antwort auf die Frage, wie man irreguläre Migration reduzieren könnte: durch das Opfern der Menschenrechte." Gerald Knaus

STANDARD: Hängt das vielleicht damit zusammen, dass die flüchtlings- und migrationsfeindliche AfD laut Umfragen inzwischen in mehreren Bundesländern an der Spitze liegt?

Knaus: Rechtspopulistische Parteien profitieren von der Angst vor Kontrollverlust. Sie setzen rassistische und absurde Verschwörungstheorien vom "großen Bevölkerungsaustausch" in Umlauf. Sie haben aber auch eine Antwort auf die Frage, wie man irreguläre Migration reduzieren könnte: durch das Opfern der Menschenrechte. Orbán oder Trump taten dies bereits, indem sie das Recht, einen Asylantrag zu stellen, de facto abgeschafft haben. In Polen oder Ungarn wurden illegale Pushbacks im nationalen Recht legalisiert. Trump plant nach einem erneuten Wahlsieg Massenlager, einen Ausnahmezustand und die Abschiebung Hunderttausender. Demokratien müssen zeigen, dass humane Kontrolle möglich ist und kein Grund zu Panik besteht.

STANDARD: Warum glauben Sie, dass die Auslagerung der Asylverfahren eine funktionierende Antwort wäre? Zwar würde sie Flüchtlinge davon abhalten, europäischen Boden zu betreten – aber sind Rassismus und Ausländerfeindlichkeit nicht dort, wo wenig Kontakt zu Fremden besteht, besonders ausgeprägt?

Knaus: Es gibt in jeder Gesellschaft Rassisten und Vorurteile gegen Minderheiten. Doch damit rechtsextreme Parteien auf über 20 oder gar 30 Prozent kommen, braucht es das Versagen von Parteien der Mitte. In der europäischen Migrationspolitik versagen diese. Wir haben heute Pushbacks und unmenschliche Zustände an den EU-Außengrenzen, wir haben die Kooperation mit Libyen, und wir haben trotzdem mehr irreguläre Migration und mehr Tote. Das erlaubt es Rechtsextremen zu sagen: Wir sind wenigstens ehrlich und setzen die Flüchtlings- und Europäische Menschenrechtskonvention einfach aus. Dagegen braucht es mehrheitsfähige Strategien, die effektiv sind und auf dem Boden des Rechts stehen. (Irene Brickner, 27.11.2023)