Die Zahl der Ankünfte von Flüchtlingen und Migranten in Europa ist heuer wieder drastisch gestiegen. Um die Situation in den Griff zu bekommen, arbeitet die EU an einer Asylreform. Gleichzeitig gibt es aber auch vermehrt Initiativen, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern – eine Idee, die Ruud Koopmans schon länger propagiert. Im STANDARD-Interview erklärt der niederländische Migrationsexperte, wie das umgesetzt werden könnte.

STANDARD: Der Politologe Ivan Krastev hat einmal gemeint: "Es gibt Krisen, die können nicht gelöst, sondern nur überlebt werden – die Flüchtlingskrise ist eine davon." Stimmen Sie zu?

Koopmans: Nein. Die regelmäßigen Flüchtlingskrisen sind eine Folge der Struktur unserer Flüchtlingspolitik. Deshalb sind sie auch theoretisch durch eine Reform dieser Struktur zu meistern. Es gibt diese Märchen, dass es völlig sinnlos sei, sich gegen diesen Migrationsdruck zu wehren; dass man das akzeptieren und seine Einstellung dazu ändern müsse. Dem ist nicht so. Es gibt viele Beispiele, in Europa 2016 durch den Deal mit der Türkei oder Australiens Politik, dass man Migration sehr gut steuern kann.

STANDARD: In Ihrem Buch "Die Asyl-Lotterie" haben Sie das EU-Asylsystem als "todkrank" bezeichnet. Jetzt will die EU eine Reform durchführen, die unter anderem schnellere Asylverfahren an den Außengrenzen und Abschiebungen in Drittstaaten vorsieht. Ist das die richtige Medizin?

Ein Holzboot mit Flüchtlingen und Migranten ist auf dem Weg zur spanischen Insel Teneriffa. Geht es nach Ruud Koopmans, sollen sie bald ganz woanders landen.
AFP/SASEMAR/HANDOUT

Koopmans: Es kann ein Schritt in die richtige Richtung sein, wenn es auch Fortschritte bei Abkommen mit Drittstaaten gibt. Ansonsten würde die Reform nicht viel bringen. Man führt zwar schnellere Verfahren durch, aber wenn die Menschen abgelehnt werden, kann man sie nicht abschieben. Außerdem darf die Mehrheit der Asylsuchenden weiter in die EU einreisen, weil sie aus Ländern mit einer Anerkennungsquote von über 20 Prozent kommen. An den Außengrenzen würde sich die Situation sogar verschlimmern, weil wir dann überfüllte Lager hätten – also mehrere Morias.

STANDARD: Die Länder an den EU-Außengrenzen sollen entlastet werden, indem Asylwerber von dort auf andere EU-Staaten verteilt werden. Wer das ablehnt, soll stattdessen 20.000 Euro pro Kopf zahlen. Wie will man beispielsweise Ungarn oder Polen dazu bringen, das zu bezahlen?

Koopmans: Es ist der nächste Versuch, Wasser den Berg hinaufzutragen. Erstens werden die Länder in Osteuropa nicht mitarbeiten, zweitens werden die Asylsuchenden nicht dort bleiben wollen.

STANDARD: Bei jenen, die einen negativen Asylbescheid erhalten, scheitert es an fehlenden Rückführungsabkommen mit Drittstaaten bzw. an der mangelnden Umsetzung. Wie kann man hier Fortschritte erzielen?

Koopmans: Bislang wurden die Interessen der Herkunftsländer zu wenig berücksichtigt. Migration ist für die Regierungen der Herkunftsländer viel zu wichtig – als Einkommensquelle für den Staat, aber auch für die Familien der Migranten sind die Rücküberweisungen essenziell. Wenn Europa aber anbieten würde, dass stattdessen Menschen von dort ganz legal einreisen können, als Saisonarbeiter, als Studierende, oder es vielleicht auch Erleichterungen bei der Visavergabe gibt, dann wird es plötzlich attraktiv für die Länder. Es gibt bereits Vereinbarungen mit Westbalkanstaaten wie Nordmazedonien, die ganz gut funktionieren.

STANDARD: Aber wie will man Länder wie Ungarn, Polen oder auch Österreich überzeugen, diese Menschen aufzunehmen, auch wenn sie auf offiziellem Weg einreisen?

Koopmans: Da wäre ich gar nicht so pessimistisch. In Italien hat die Rechtsregierung angekündigt, in den nächsten Jahren hunderttausende Arbeitsmigranten aufnehmen zu wollen. Viele europäische Länder brauchen Arbeitskräfte.

STANDARD: Um diese legalen Einreisewege durchzusetzen, müssen als Grundvoraussetzung die Außengrenzen gut geschützt werden. Dafür braucht es Abkommen mit Anrainerstaaten. Sie haben die Türkei erwähnt, mit Tunesien hat man es probiert, Stand jetzt ohne Erfolg. Es gibt auch Kooperationen mit libyschen Milizen. Muss man sich daran gewöhnen, dass man von umstrittenen Akteuren abhängig ist?

Koopmans: Ohne Kooperationen mit anderen Staaten wird es nicht gelingen, Kontrolle über Migration zu bekommen. Damit wir nicht zu sehr von Anrainerstaaten abhängig sind, brauchen wir auch Abkommen mit anderen Drittstaaten, die nicht an die EU grenzen. Deshalb sind die Pläne Großbritanniens und Dänemarks mit Ruanda so wichtig, weil sie diesen Weg aufgezeigt haben. Ruanda halte ich nicht für die beste Wahl, es gibt rechtliche Bedenken, die ich teile. Aber es gibt andere Länder in Afrika, die infrage kommen, wie Ghana oder der Senegal – stabile demokratische Länder. In Europa gibt es Albanien, wie der Deal mit Italien zeigt. Dafür muss man aber in der EU-Asylverfahrensrichtlinie den Passus ändern, laut dem Asylsuchende nur in sichere Drittstaaten geführt werden können, zu denen sie eine vorherige Verbindung haben. Dann ist es möglich.

Experte Ruud Koopmans hält von Ruanda als Drittstaat für Asylverfahren nicht sehr viel.
IMAGO/Jürgen Heinrich

STANDARD: Der Deal zwischen Italien und Albanien soll nur für 3000 Migranten gelten. Reicht das?

Koopmans: In Australien werden Migranten auf hoher See abgefangen und in Lager auf Nauru oder Papua-Neuguinea gebracht. Sie haben keine Möglichkeit, nach Australien zu kommen. Mit Albanien könnte es ähnlich funktionieren. Man nimmt den Menschen den Anreiz, weil sie wissen, dass sie nicht in die EU können. Dann werden auch nicht mehr so viele kommen.

STANDARD: Ist Albanien wirklich dafür geeignet? Die Menschen könnten von dort über den Landweg versuchen, in die EU zu kommen.

Koopmans: Das stimmt. Deshalb empfehle ich Italien, mit den Ländern auf dieser Landroute Abkommen zu vereinbaren, dass sie die Migranten wieder nach Albanien zurückschicken.

STANDARD: Und dann gibt es noch massive rechtliche Bedenken sowohl in Italien als auch in Albanien.

Koopmans: Wie sich das rechtlich entwickeln wird, kann ich nicht vorhersagen, das hängt von der genauen Umsetzung ab. Ich denke aber, dass der politische Druck und der politische Wille in diese Richtung sehr groß sind. Es wird sicher weitere Versuche diesbezüglich geben.

STANDARD: Wie wird die EU-Asylpolitik in zwei, drei Jahren aussehen?

Koopmans: Ich bin sicher, dass sich dann grundsätzlich etwas geändert hat. Es gibt zwei mögliche Szenarien: Europa hat Ernst gemacht mit der Auslagerung von Asylverfahren. Das ist der eine Weg, auf dem wir rechtskonform und humanitär eine Kontrolle über Migration bekommen können. Der andere Weg: So wie jetzt in den Niederlanden kommen Rechtspopulisten an die Macht oder werden so stark, dass sie die anderen großen Parteien unter Druck setzen, sodass diese zu Mitteln greifen, die zwar funktionieren, aber nicht rechtskonform sind – Pushbacks zum Beispiel, wie sie Griechenland oder Polen bereits anwenden. Auf alle Fälle ist die Asylpolitik, wie wir sie derzeit in der EU haben, nicht überlebensfähig. (Kim Son Hoang, 4.12.2023)