Auf den ersten Blick wirkt das Ruanda-Projekt des Migrationsexperten Gerald Knaus überzeugend – die Bruchpunkte sind erst bei näherer Betrachtung zu erkennen. Die Staaten der EU sollen Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer künftig nach Ruanda ausfliegen. Dort sollen sie Asyl beantragen und den Ausgang ihres Verfahrens abwarten.

Rettungsschiff vor Lampedusa
Bootsflüchtlinge sollen künftig nach Ruanda ausgeflogen werden: ein Rettungsschiff vor Lampedusa.
EPA/CIRO FUSCO

In der Folge soll sich die Nachricht, dass Europa seine Pforten schließt, herumsprechen. Die Bereitschaft von Flüchtlingen, auf Seelenverkäufern ihr Leben aufs Spiel zu setzen, soll sinken – und damit auch die Zahl der Flüchtlingsboote. Das große Sterben im Meer vor Europa, dieser seit Jahren hingenommene menschenrechtliche Abgrund, hätte ein Ende.

Das mag Hoffnung geben, mag Regierungen und Asylbehörden, deutschen Bürgermeistern, Bewohnerinnen von Lesbos oder Lampedusa als Ausweg aus einer verfahrenen Lage erscheinen: weniger irreguläre Migration, weniger Leid, weniger rechtsextreme Flüchtlingsdemagogie. Die Gefahr, dass Europa ins Faschistische kippt, wäre geringer.

Doch einer solchen Entwicklung steht manches entgegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass europäische Gerichte den Ruanda-Plan stoppen, ist groß. Europa verfügt über die international entwickeltste Menschenrechtsgesetzgebung – und ein vergleichbares britisches Projekt wurde kürzlich fürs Erste höchstgerichtlich abgesagt.

Auch erscheinen die Aufnahmekapazitäten Ruandas im Vergleich zur Bootsflüchtlingszahl verschwindend gering. Heuer kamen bereits 180.000 irreguläre Migranten über das Meer nach Europa. Leerstehende ruandische Hotels und andere Unterkünfte könnten nur einen Bruchteil dieser Menschen aufnehmen.

Mehr bräuchte es auch nicht, entgegnet hier Experte Knaus. Das Signal der Flüchtlingsabweisung werde rasch wirken – wie in Australien, das Bootsflüchtlinge seit mehr als 20 Jahren nach Papua-Neuguinea und Nauru bringt. Tatsächlich erreichen inzwischen nur noch vereinzelte irreguläre Migranten australische Gestade. Doch mehr als die 20.587 Menschen im Jahr 2013 waren es sowieso nie. Die Größenordnung des Problems ist nicht vergleichbar.

All das rückt ein Scheitern des Ruanda-Projekts in den Wahrscheinlichkeitsbereich. Das aber wäre fatal. Die ungelösten Probleme der EU im Umgang mit irregulärer Migration und Flucht würden dann bumerangähnlich zurückkommen. (Irene Brickner, 28.11.2023)